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Die Linke in Frankreich:

Sammlung der antikapitalistischen Kräfte

Er ist, aus Sicht der bürgerlichen Presse, zum „bekanntesten Gesicht der Revolution“ geworden: Olivier Besancenot, der im April dieses Jahres 34 wird, wird durch die französischen Medien durchaus geschätzt. Als gefährlichen Brandstifter oder Sektenführer können sie diesen Revolutionär, anders als andere radikal linke PolitikerInnen, nur selten darstellen. Ein Schuss von Ironie wird hingegen durch die bürgerlichen Journalisten oft beigemischt, wenn sie sein angebliches jugendliches Auftreten beschwören. Auch wenn Besancenot inzwischen selbst Vater eines kleinen Kindes und seit elf Jahren berufstätig ist: Nachdem er Geschichte studiert hatte, wurde Olivier Besancenot 1997 als Briefträger eingestellt und ausgerechnet dem Pariser Millionärsvorort Neuilly-sur-Seine als Postzusteller zugeteilt.

Im Herbst 2001 entschied sich die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), welcher Besancenot seit 1991 angehört, für den damals 27jährigen als Präsidentschaftskandidaten. Seit damals hat Besacenot zwei mal jeweils gut vier Prozent (2002: 4,3 %, 2007: 4,1 % bei höherem Anteil an absoluten Stimmen aufgrund höherer Wahlbeteiligung) bei den Wahlen zum französischen Staatsoberhaupt erzielt. Das entspricht im ersteren Falle rund 1,2 Millionen, beim zweiten Mal rund 1,5 Millionen abgegebenen Stimmen. Inzwischen ist er damit zu einem der bekanntesten Gesichter der französischen radikalen Linken geworden, er wird in Talkshows eingeladen und darf das aktuelle Geschehen auch in etablierten Medien kommentieren. Die LCR ist im selben Zeitraum zur stärksten Kraft links von der Sozialdemokratie avanciert, wenn man sich nur auf die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen stützt, nachdem die französische KP dort schwer eingebrochen ist.

An Mitgliederzahlen übertrifft Letztere freilich Besancenots LCR, die rund 3.000 aktive Mitglieder zählt (die KP hingegen einige Zehntausend, unter ihnen jedoch viele Karteleichen), noch immer deutlich. Allerdings leidet die weitaus etabliertere KP unter einem erheblichen Überalterungsproblem, während die LCR unter Besancenot eine starke Verjüngungskur erlebte und auch auf jugendliche Globalisierungskritiker und andere junge Leute erhebliche Ausstrahlungskraft hat.

Dieses Kräfteverhältnis zwischen der „größeren und institutionnalisierten“ (sowie, nicht unwichtig, noch immer auf eine künftige Regierungsbeteiligung als politische Strategie setzenden) KP einerseits und der radikaleren Linkskraft andererseits könnte nun jedoch in Bewegung geraten. Hat die 1969 – unmittelbar aus dem Schwung der Mai-Unruhen im vorangegangenen Jahr heraus – entstandene LCR doch nach den Präsidentschaftswahlen vomApril/Mai 2007 angekündigt, zur Schaffung einer breiteren „Neuen Antikapitalistischen Partei“ beitragen und sich bei Erfolg in diese hinein auflösen zu wollen. Nouveau Parti Anticapitaliste, abgekürzt NPA (der Begriff ist männlich, wie „le oarti“ im Französischen), lautet denn auch ihr bisheriger Titel - bis zu einer offiziellen Namensgebung. Auch wenn sich derzeit abzeichnet, dass es zumindest im ersten Jahr nach dem Gründungskongress (Januar 2009) eventuell beim Parteinamen NPA bleiben könnte, ist dieser doch inzwischen gut „eingeführt“ und wirft gleichzeitig – als solcher – keine ideologischen, politischen oder strategischen Streitfragen auf, sondern drückt vielmehr einen gemeinsamen Konsens aus.

Bislang hatte die LCR ein ideologisches Profil, das sich als trotzkistisch, und dabei undogmatisch beschreiben lässt. Nun möchte sie jedoch auch all jene Menschen, die die historischen Bezüge des Trotzkismus – in Russland 1917 etwa – nicht teilen, aber für eine sowohl radikale als auch nicht-sektiererische Gesellschaftskritik eintreten, ein Angebot zur gemeinsamen Organisierung machen. Schon bei seiner ersten Präsidentschaftskandidatur 2002 hatte Besancenot Schritte in Richtung einer solchen Öffnung unternommen: In seinem damals publizierten Buch unter dem Titel „Révolution“ schrieb er, auch die „libertären Kommunisten“ – die in Frankreich aus einer anarchistischen Strömung kommen und den positiven Bezug auf die Oktoberrevolution nicht teilen – hätten ihre Platz in der LCR. Nunmehr sind die Trotzkisten aber auch bereit dazu, ihre eigene Organisation aufs Spiel zu setzen und nur noch eine Strömung innerhalb einer breiter angelegten radikalen Partei zu bilden.

Wie wird es nun weitergehen? In zahlreichen Städten, Gemeinden oder großstädtischen Bezirken haben sich seit dem Winter 2007/08 „Initiativkomitees für eine Neue Antikapitalistische Partei“ gebildet, an denen Mitglieder der örtlichen Sektionen der LCR jeweils teilnehmen, aber nicht unter sich bleiben. Am letzten Wochenende im Juni 2008 fand eine erste landesweite Delegiertentagung mit zwischen 1.000 und 1.500 VertreterInnen der örtlichen Komitees (unter ihnen nur ein Drittel Mitglieder der bisherigen LCR, die bewusst auf eine Strategie der Selbstbeschränkung gesetzt hatte, um die Versammlung nicht zu majorisieren) statt. Ende November 2008 folgte ein zweites Delegiertentreffen, das dieses Mal eher als Arbeitstagung zu konkreten Themen dienen sollte, so dass die Delegiertenzahl dieses Mal auf zwischen 500 und 1.000 – bei ähnlicher politischer Zusammensetzung – beschränkt wurde. Am letzten Wochenende im Januar 2009 wird nun der Gründungskongress des künftigen NPA zusammentreten. Kurz zuvor wird sich die LCR auf einem allerletzten, kurzen Parteitag auflösen, um ihre Mitgliedschaft in die neue Partei zu überführen. Derzeit (Ende 2008) sind 12.000 Mitgliedskarten für den künftigen NPA ausgegeben worden. Allerdings ist in den einzelnen Basiskomitee eine mehr oder minder starke Mitgliederfluktuation zu verzeichnen – insbesondere unter Anhänger/inne/n, die aus sozialen Bewegungen kommen, aber bislang nie in einer parteiförmigen, „verbindlichen“ und global zu sehr unterschiedlichen Themen arbeitenden Struktur aktiv gewesen sind. Real wird damit gerechnet, dass dem NPA in seiner Gründungsphase knapp 10.000 Menschen angehören werden. Die Mitglieder der früheren LCR würden damit ein knappes Drittel ausmachen.

Allerdings sind sich nicht alle bisherigen Angehörigen der LCR über das neue Parteiprojekt vollkommen einig. Bei der LCR, die seit ihrer Gründung (1969) das Recht auf freie Fraktionsbildung und -betätigung anerkennt, gibt es heute im Wesentlichen zwei große Strömungen. Ein Mehrheitsblock strebt heute im Kern die Neuformierung einer (über bisherige ideologische Grenzen, aus der Ära von vor 1989, hinweg schreitenden) radikalen Linken in völliger Unabhängigkeit von der Sozialdemokratie an. Als Chiffre dafür steht das politische Projekt der „Neuen antikapitalistischen Partei“, auch wenn in der Realität unterschiedliche konkrete Vorstellungen über deren künftiges Profil bei einzelnen Sachfragen (innerhalb der LCR wie unter den Anhängern des künftigen NPA) bestehen und künftig für Diskussionen sorgen dürften.

Hingegen strebte und strebt eine Minderheitsfraktion der „alten“ LCR ein – sagen wir es offen – strategisch „rechts“ davon zu verortendes Projekt an. Nämlich den Zusammenschluss in einem gemeinsamen Bündnis (oder längerfristig unter einem gemeinsamen organisatorischen Dach) mit bisherigen Strömungen oder Parteistrukturen der etablierten Linken. Als Vorbild für letzteres Projekt könnte etwa die Partei „Die Linke“ in der Bundesrepublik Deutschland dienen, die von manchen Anhängern der Minderheitsströmung in der LCR auch als positives Vorbild zitiert wird.

Nunmehr hat - insbesondere seit den Landtagswahlen von Anfang 2008 in Hessen, Niedersachen und Hamburg - auch ein Teil des Parteiapparats der französischen KP sein Interesse an einem solchen „neuartigen Bündnisprojekt“ entdeckt. So veröffentlichte nach der Hamburgwahl vom 24. Februar 2008 die Pariser Abendzeitung Le Monde eine volle Zeitungsseite mit Reaktionen aus unterschiedlichen Ecken der französischen Linken zu den Ergebnissen der neuen Partei in Deutschland. Dabei äußerte auch ein hochrangiger Vertreter der KP, Olivier Dartigolles, es könnte interessant sein, „eine ähnliche Partei auch in Frankreich unter Einschluss der KP, der Parteilinken bei den Sozialisten und eines Teils der LCR“ (die er dabei praktischerweise, zumindest in Worten, gleich spaltet) herauszubilden. Allerdings hat diese Strategie innerhalb der französischen KP selbst wiederum beim jüngsten Parteitag, der vom 11. bis 14. Dezember 2008 stattfand, eine Schlappe erhalten. Denn die Parteiführung, in diesem Falle gestützt auf die – sonst oft in der innerparteilichen Opposition stehenden – „orthodoxen“ Kräfte (jene Parteimitglieder, die im Kern eine Rückkehr zu Strukturen und Profil wie während der sowjetischen Ära anstreben), hat die Auflösung der Partei in eine breite „anti-neoliberale“ Sammlung abgelehnt. Die KP will sich „öffnen“, so die Führung unter der – mit 67 Prozent der Delegiertenstimmen (gegenüber 91 % beim Kongress davor) wiedergewählten, jedoch geschwächten – Vorsitzenden Marie-George Buffet, aber nicht in ein breiteres Bündnis hinein „auflösen“. Die „Neugründer“ (Refondateurs), die genau dies unter den Vorzeichen einer zu schaffenden „anti-neoliberalen Linken“ anstreben, wurden auf diesem Kongress aus allen Führungsinstanzen der KP geschasst. Es wird erwartet, dass sie möglicherweise künftig das Weite suchen und sich in einem Rahmen außerhalb ihrer bisherigen Partei betätigen.

Zusätzliche Bewegung kommt nun noch dadurch in die Landschaft, dass sich auch am linken Flügel der Sozialdemokratie, durch eine Abspaltung vom französischen Parti Socialiste (PS, der Name ist männlich) eine neue parteiförmige Kraft herausschält. Der bisherige Parteilinke Jean-Luc Mélenchon, Senator und Repräsentant eines eher etatistischen und traditionssozialdemokratischen Flügels, hat sich Ende November organisatorisch selbständig gemacht. Er vertritt die Auffassung, der letzte Parteitag in Reims (vom 12. bis 14. November 2008) habe bewiesen, dass es für die Linke aussichtslos sei, innerhalb des Parti Socialiste zu bleiben. Er orientiert sich am Vorbild des deutschen Politikers Oskar Lafontaine. In dessen Anwesenheit rief Mélenchon, der in der letzten Linksregierung (bis 2002) Minister für Berufsausbildung war, daraufhin im Pariser Vorort Saint-Ouen die neue „Partei der Linken“ (Parti de gauche) aus. Diese soll die sich am Modell der fast gleichnamigen politischen Kraft in Deutschland orientieren. Im französischen Parlament wechselte Mélenchon unterdessen in die Fraktion der KP, deren Parteitag er zwei Wochen später ebenfalls besuchte.

Ob das „Modell Lafontaine“ in Frankreich zieht, bleibt allerdings zweifelhaft. Denn hier gibt es, neben der neuen „Linkspartei“, auch wesentlich weiter links stehende – parteiförmig oder nicht parteiförmig organisierte – Kräfte. Eventuell können Mélenchon und die KP, oder aber die ‚Communistes Unitaires’ und Mélenchon zusammenarbeiten.

Der NPA jedoch wird seinen eigenen Weg finden müssen. Anders als Mélenchon oder auch Buffet kann und darf er nicht auf einen künftigen Eintritt in eine „Linksregierung“ hoffen, um dort über einige Reformen „den Neoliberalismus überwinden zu helfen“.  Anti- kapitalismus sieht anders aus... „Antikapitalistisch“ und „anti-neoliberal“ können in einer konkreten Frage, etwa bei der Abwehr eines Privatisierungsangriffs, durchaus miteinander kompatibel sein. Historisch und strategisch handelt es sich jedoch um unterschiedliche Orientierungen mit, auf Dauer, unterschiedlichen Konsequenzen.

(Bernhard Schmid, Paris)