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Freiheit statt Angst – Grundrechte in Gefahr

So lautete das Motto der Grundrechtsfeiern und Demonstrationen, die am Samstag, 23. Mai 2009, in vielen Städten auf Initiative des bundesweit arbeitenden „Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung“ stattfanden. Auch in Kiel hat die Ortsgruppe des AK-VDS mit Unter- stützung von „Arbeit Zukunft“ zu einer Grundrechtsfeier mit Demonstration aufgerufen, die von rund 120, meist jungen Menschen, besucht wurde.

In einer Presseerklärung heißt es unter anderem: „(...) Mit dem bundesweiten Aktionstag möchten wir die historische Errungenschaft der Freiheitsrechte als Erbe der Aufklärung feiern und das Vertrauen in unsere Sicherheit in einer freien Gesellschaft stärken. In Kiel organisiert die lokale Ortsgruppe des AK Vorrat an diesem Tag eine Demonstration: Für die Erhaltung der Grundrechte und die  Informationelle Selbstbe-
stimmung sowie gegen Totalüberwachung und Vorratsdatenspeicherung. (...) Der Demonstrationsumzug wird mit Redebeiträgen vom Landesdatenschutzbeauftragten Dr. Thilo Weichert, der Kulturwissen-
schaftlerin Chilomium, Dr. Manuela Peters vom „Bündnis Direktabrechnung“ und dem Juristen Dr. Patrick Breyer umrahmt. Der Überwachungswahn greift um sich. Staat und Unternehmen registrierten, überwachten und kontrollieren uns immer vollständiger. Die Regierung lässt inzwischen etwa die Nutzung von Telefon, Handy und Internet verdachtslos protokollieren und Privatcomputer ausspionieren. Ein Ende der Überwachungslawine der letzten Jahre ist nicht abzusehen: Künftig droht etwa die Aufzeichnung des Surfverhaltens im Internet und die umfangreiche Auslieferung von Daten an das Ausland. (...)“.

Die Demonstration führte vom Europaplatz über die Holstenstraße, der Haupteinkaufszone Kiels, bis hin zum Bahnhofsvorplatz. Mit gut vorbereiteten Parolen wie: „Wir sind hier – wir sind laut – weil man unsere Daten klaut!“, Kameras im ganzen Land – unsere Antwort Widerstand!“, „Für die Freiheit für das Leben – Schäuble aus dem Amt entheben!“, Freiheit statt Angst – stoppt den  Überwachungs- wahn!“, „SPD und CDU lassen Vorratsdaten zu!“

Die KN veröffentlichte einen Teil der Presseerklärung, verschwieg aber, dass auch die Kulturwissen-
schaftlerin Chilomium als Rednerin vorgesehen war. Hier ihre ungekürzte Rede:

„Liebe Datenschützerinnen, liebe Verfassungsrechtler, liebe Piraten und Freibeuter, liebe Demonstrantinnen und Demonstranten!

Dieses Jahr feiert die Bundesrepublik ihren 60. Geburtstag und mit ihr unsere Verfassung, das Grundgesetz. Mit dem Grundgesetz wurden auch die Grundrechte als Basis für das Zusammenleben in unserer Gesell-
schaft gelegt. Grundrechte wie die Freiheit der Person, das Recht auf Religionsfreiheit, das Recht auf Freizügigkeit, die Meinungs- Informations- und Pressefreiheit und nicht zuletzt das Brief-, Post und Fernmeldegeheimnis. Wie man schon an diesen wenigen Stichworten hören kann, haben die Grundrechte eine Menge mit Freiheiten zu tun. Und mit der Sicherheit, dass diese auch dem Staat gegenüber gelten.

Viele Menschen in Deutschland allerdings fühlen sich in ihren Freiheiten dem Staat gegenüber eingeschränkt und vielen Menschen fehlt die Sicherheit, diese Freiheiten einfordern zu können. Genau für solche Fälle gibt es den Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde: Er soll sicherstellen, dass Bürger ihre Rechte dem Staat gegenüber vor einem Gericht einklagen können. Dies dient dem Schutz der Bürger, dem Schutz der Grundrechte, dem Schutz der Demokratie und damit doch auch letztlich dem Schutz unseres Staates, der  Bundes- republik Deutschland.

6.000 Mal im Jahr wird eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Das bedeutet, dass eine große Zahl Mitbürgerinnen und Mitbürger das Gefühl hat, die Staatsgewalt verletze ihre Grundrechte. Unser oberster Verfassungsrichter, Hans-Jürgen Papier, sieht das alles etwas anders. Vorgestern fand in Berlin das so genannte Verfassungsgespräch statt, in dem Herr Papier sich mit führenden Politikern über die Grundrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterhielt. Hierbei stellte er zufrieden fest:

„Gefahren für die grundrechtliche Ordnung der Bundesrepublik sehe ich nicht.“ Das könnte eine erfreuliche Feststellung sein, wäre ihre Begründung nicht so zynisch. Herr Papier schließt dies nämlich aus der Tatsache, dass von den 6.000 jährlichen  Verfassungsbe- schwerden nur 2,5 % zum Erfolg führen. Wenn eine Verfassungsbeschwerde dazu dient, die rechtsstaatliche Ordnung von Seiten der Bürger zu sichern, indem sie vor verfassungswidrigen Übergriffen des Staates schützt, dann zeigt eine so niedrige Zahl von Erfolgen doch nur, dass das Gebilde Staat, dass die Regierung sich keine Sorgen machen muss, die Bürger könnten sie mit dem Wunsch nach Grund- rechten tangieren.

Herr Papier meint mit der Bundesrepublik, deren grundrechtliche Ordnung nicht gefährdet ist, nicht uns. Er meint nicht die Bürgerinnen und Bürger, die darum kämpfen, ihre Grundrechte zu sichern. Er meint die Regierung, er meint die Gerichte, er meint auch die Polizei und das Militär. Wenn er den Staat als das begreifen würde, was er ist, wenn er die Bürgerinnen und Bürger meinen würde, die um ihre Grundrechte bangen, dann wäre eine Zahl von 6.000 Verfassungsbeschwerden jährlich allein schon alarmierend. Noch alarmierender wäre jedoch die Tatsache, dass davon nur 2,5 %, das sind 150, Recht bekommen. Denn die restlichen 97,5 %, die restlichen 5.850, werden abgewiesen.

Eine Demokratie lebt von der aktiven Mitarbeit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Nur wenn alle zusammen-
arbeiten und an einem Strang ziehen, kann Demokratie funktionieren. Nur wenn der Staat seine Bürger und die Bürgerinnen ihren Staat ernst nehmen, wenn einer auf die Belange des anderen Acht gibt, kann eine grundrechtliche Ordnung funktionieren. Verletzt einer von uns die Verfassung, hat der Staat seine Mittel, diese zu schützen. Das macht auch Sinn und ist notwendig. Doch genauso, wie es notwendig ist, ist es pervertiert, denn mit Online-Durchsuchung, Vorratsdatenspeicherung und biometrischen Pässen wird jeder von uns zum immer einfacher überwachbaren Zombie, dessen einzige Aufgabe es ist, die Konjunktur anzukurbeln und Abwrackprämien zu kassieren. Wenn auf der anderen Seite der Staat seine Befugnisse überschreitet und eine Verfassungsbeschwerde eingelegt wird, deutet Herr Papier das als Angriff auf die  grund- rechtliche Ordnung, den es abzuwehren gilt. Und der Antragsteller wird am besten gleich in die Anti-Terror-Datei aufgenommen, man weiß ja nie.

Wir, liebe Bürgerinnen und Bürger, liebe Demokraten und Freiheitskämpfer, wir sind hier die Verfassungs-
schützer. Das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Bundesinnenministerium, die Verfassungsgerichte schützen den Staat vor der Verfassung. Wir aber kämpfen für eine grundrechtliche Ordnung, die für jeden gleichermaßen gilt. Wir setzen uns ein für Datenschutz, für das Recht auf Privatsphäre, für das Fernmeldegeheimnis, für unsere Freiräume dem Staat gegenüber. Denn wenn wir diese Freiheiten haben, wenn unsere Grundrechte gesichert sind und der Staat seinen Teil dazu beiträgt, sie für uns zu sichern, dann hat unsere Demokratie die Basis, die sie braucht. Dann haben wir einen starken Staat, den seine Bürgerinnen und Bürger gestalten und hinter dem sie stehen. Dann können wir uns gemeinsam endlich den großen Problemen zuwenden, dem Klimawandel, den Kriegen, dem Hunger und der Armut. Wenn endlich die Zeiten der staatlichen Paranoia vorbei sind, in denen jeder Bürger ein Terrorist, jede Bürgerin ein subversives Element sein könnte. Darum kämpft mit für die Erhaltung unserer Grundrechte, kämpft für eure Freiheit, kämpft für eure Sicherheit und kämpft für die Demokratie!
Vielen Dank.“

INFO: Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung ist ein bundesweiter Zusammenschluss von Bürgerinnen und Bürgern in über 50 Orts- gruppen, die sich für den Schutz unserer Freiheitsrechte in Zeiten ausufernder Überwachung einsetzen. Der Arbeitskreis hat die mit über 34.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern größte Verfassungsbeschwerde der Bundesrepublik initiiert, die sich gegen die verdachtslose Protokollierung unserer Telekommunikation richtet. Zuletzt am 11. Oktober 2008 gingen zehntausende von Menschen in Berlin unter dem Motto „Freiheit statt Angst“ für ihr Recht auf Privatsphäre auf die Straße.
 

 (Arbeit Zukunft Kiel)
Mehr Infos unter:

www.vorratsdatenspeicherung.de

www.schulterschluss-kiel.de