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SPD-Minister von Carstensen geschasst:

Enttäuschte Sozialdemokraten

Wortreich und glaubhaft haben sie bis zur letzten Minute versichert, treu und geschlossen alle vom Kabinett beschlossenen unsozialen Maßnahmen mittragen zu wollen. Auch die Vernichtung Tausender Arbeitsplätze im Landesdienst. Es hat ihnen nichts genutzt, den schleswig-holsteinischen SozialdemokratInnen – mit ausgesuchter Dreistigkeit und Arroganz hat Peter Harry Carstensen ihrer Beteiligung an der Regierung in Kiel ein Ende gemacht. Mit dem Rauswurf der SPD-MinisterInnen hatte er zuvor auch dem letzten  Sozialdemokraten die Lust genommen, ihm am 23. Juli vielleicht doch noch das Vertrauen auszusprechen und so das unwürdige Taktieren zur Verhinderung von Neuwahlen fortzusetzen.

Das Jammern aber hatte damit kein Ende. „Den Tränen nahe“, so weiß die Kieler Nachrichten zu berichten, und „mit stockender Stimme“ gab Ute Erdsieck-Rave ihre letzte Erklärung im Landtag ab, die mit ihren KollegInnen Trauernicht, Döring und Hay (der von der Millionenzahlung an HSH-Nordbank-Chef Nonnenmacher unterrichtet war und nicht dagegen protestiert hatte) abgestimmt war: „Ich will und werde nicht akzeptieren, dass die heutige Abstimmung ein Scheitern der Großen Koalition in ihrer Regierungsarbeit ist“ …

Jetzt wird die SPD einen Wahlkampf unter dem Motto „Schwarz-Gelb verhindern!“ führen, im Bund wie im Land, wo nun am 27. September zwei Parlamente gewählt werden. Sie hofft dabei auf die Unterstützung der Gewerkschaften, die ihr von vielen Funktionären bereits signalisiert wird. Aber aus welchem Grunde sollte eine Gewerkschafterin oder ein Gewerkschafter, die oder der sich einen letzten Rest Erinnerungsver-
mögens und politischen Sachverstandes bewahrt hat, dieser Partei noch einmal seine Stimme geben?

Die SPD geht in den Bundestagswahlkampf mit den alten Rittern der Agenda 2010 an der Spitze. Franz Müntefering als Hoffnungsträger – unfassbar. Und in Kiel Ralf Stegner, der sich vor allem darüber aufregt, dass Herr Carstensen die Koalition so zielgenau hat platzen lassen, dass er den von ihm aus taktischen Gründen gewünschten Wahltermin hinbekommt.. Klar, Carstensen ist ein Demagoge und ein Lügner. Das wissen alle, die es wissen wollen, schon lange, ob sie es nun aussprechen oder nicht. Das haben protestierende und streikende Landesbeschäftigte schon vor drei Jahren auf den Straßen Kiels und anderer Städte ausgesprochen. Sie haben Stegner nicht aufgefordert, mit ihm und seiner CDU zu koalieren. Sie haben vielmehr auch Stegner angegriffen, weil er eine gegen die Beschäftigten und Erwerbslose gerichtete Politik mitgetragen und mitgestaltet hat; sie sollten und werden hoffentlich nicht vergessen, dass er genau diese Politik so gern weitergeführt hätte. Und sie sollten und werden sich hoffentlich auch nicht darüber täuschen (lassen), dass die SPD, wenn sie die Chance bekommen sollte, unbeschadet aller Vorfälle der vergangenen Tage erneut eine Koalition mit der CDU eingehen würde. Die Hoffnung auf eine erneute Regierungsbeteiligung habe sie nicht aufgegeben, so Erdsieck-Rave am 21. Juli… Damit sind eigentlich alle Wahl-Versprechen, die die SPD machen mag, von vornherein entwertet.

„Wir mussten uns in dieser Großen Koalition verbiegen und Beschlüsse zugestehen, die nichts mehr mit den Grundwerten der SPD zu tun hatten. Viele finden es daher nicht abschreckend, wenn wir in der Opposition wieder zu uns selbst finden.“ So wird in den Kieler Nachrichten Alexander Orth vom SPD-Ortsverein Heikendorf zitiert. Ich kenne etliche SozialdemokratInnen, die ähnlich denken. Ich weiß aber auch, dass sie in der Minderheit sind. Vor allem habe ich die Erfahrung gemacht, dass die SPD in der Opposition nie „zu sich selbst“ findet, was immer das heißen soll -  ihre tatsächlichen Grundwerte sind doch schon lange nicht mehr die, von denen enttäuschte SPD-GenossInnen träumen - , sondern nur „radikalere“ Töne anschlägt, um gleichzeitig den nächsten Wahlbetrug vorzubereiten. „Es nutzt ja nichts. Wir haben nur noch die Wahl zwischen dem größeren und dem kleineren Übel.“ Das erklärte mir eine ver.di-Kollegin vor einigen Tagen während einer Sitzung in Kiel. Mich hat diese altbekannte Wortwahl ebenso erschreckt wie die darin zum Ausdruck kommende weitgehende Resignation.

Mit der Stimmabgabe – für wen auch immer – am 27. September wird ein grundlegender politischer Kurs-
wechsel in der Bundesrepublik nicht zu erreichen sein. Vor allem in den Gewerkschaften müssen wir dafür sorgen, dass solcher Illusion nicht weiter Vorschub geleistet wird. Vor uns steht weiterhin die Aufgabe, in den Betrieben und Dienststellen und auf der Straße den aktiven Widerstand gegen die Politik der Regierungen und der Banken und Konzerne zu organisieren. Ein gutes Stichwort dazu hat uns eben am Tage der letzten Landtagssitzung der Vorstandschef der Deutschen Post, Frank Appel, gegeben: „Es führt kein Weg an einer Verlängerung der Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich vorbei. Auch bei den Lohn-
steigerungen müssen wir auf die Bremse treten.“ Er hat zwar nur für „sein“ Unternehmen gesprochen, aber den Ton angeschlagen, der uns spätestens nach den Wahlen aus allen Branchen und aus den Geschäfts-
zimmern der Bundesregierung und aller Landesregierungen entgegenschallen wird. Appel weist uns damit allerdings auch auf wichtige Gegenpositionen hin, die nur in außerparlamentarischer Aktion durchgesetzt werden können: drastische Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich; Lohnsteigerungen, die diesen Namen verdienen; einen Mindestlohn, der nicht unterhalb der Pfändungsgrenze liegt; die Entwicklung gewerkschaftlicher Kampfkraft, die verhindert, dass die immerhin denkbare Einführung eines Mindestlohns nicht zu einem beschleunigten Abbau höherer Einkommen in Richtung auf diesen Minimallohns genutzt werden kann.

Ein Lohn von 7,50 Euro mag für viele eine deutliche Verbesserung darstellen, und wo das zutrifft, ist seine Einführung  unterstützenswert; wer für einen solchen Lohn allerdings mit den Vokabeln „fair“ und „gerecht“ wirbt, ist nicht recht bei Trost und leistet genau einer solchen Entwicklung Vorschub. Die ausführliche Anmerkung zu diesem Punkt sei gestattet, weil die SPD vor allem mit ihrer Zustimmung zur gewerkschaftlichen Forderung nach einem Mindestlohn die Unterstützung unserer Organisationen im Wahlkampf erreichen möchte. Dabei hat sie sich noch nicht einmal eindeutig auf diese 7.50 Euro festgelegt; Franz Müntefering bezeichnete diese Marge im April lediglich als „wirklichkeitsnah“ und trat noch höheren Forderungen ausdrücklich entgegen.

Mischen wir uns also ein in den Wahlkampf, mit unseren Positionen, nutzen wir ihn auch nicht nur zu konkreten Vorschlägen für eine andere Politik, sondern zur Werbung für die Überwindung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, in dessen Fortbestand unsere wesentlichen Probleme begründet liegen, und zur Organisierung für die dafür notwendigen Kämpfe.

 (D.L.)