Aus dem Kieler Rat

Nicht haftbar, aber die Geschichte bleibt haften

Rat appelliert an Kieler Firmen, ZwangsarbeiterInnen zu entschädigen

"Entschuldigen können wir nichts, wir können nur aufarbeiten. Wir werden uns bemühen, aus der Geschichte zu lernen, einer Geschichte für die wir als Nachkriegsgeneration rechtlich nicht haftbar sind, aber doch bleibt diese Geschichte an uns haften." OB Norbert Gansel ist sichtlich (und ausnahmsweise wohl auch mal ehrlich) bewegt bei diesen Worten, muss schlucken und Tränen unterdrücken.

Das "dunkle Kapitel" der während des Krieges in Kiel zu Sklavenarbeit gezwungenen Kriegsgefangenen und Deportierten packt der Rat fast 55 Jahre nach dem Ende des Nazi-Terrors an, in der Ratsversammlung vom 20.1. Zur November-Ratsversammlung hatte die SPD-Fraktion eine kleine Anfrage gestellt. Ergebnis, wegen des desolaten Forschungsstandes einer verdrängten Geschichte ausdrücklich nur vorläufig: Über 36.000 ZwangsarbeiterInnen in Kiel, interniert in ca. 112 Lagern, wovon das "Arbeitserziehungslager Nordmark" in Russee nur das größte ist. In der Liste aus dem Band 7 des "Heimatgeschichtlichen Wegweisers zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945" (erschienen 1993), die Wirtschaftsdezernent Rethage seiner Antwort auf die Anfrage beifügte, findet man in fast allen Kieler Stadtteilen Lager verzeichnet, in denen jeweils zwischen 24 (Preetzer Str. 33/35) und 1.265 (Am Specken, Dietrichsdorf) Versklavte aus beinahe allen besetzten Ländern "untergebracht" waren. Ab 1944 wurden sogar Lager für Kinder eingerichtet (u.a. in Elmschenhagen), die, so SPD-Ratsherr Raupach, als Durchgangslager zur "Arisierung durch anonyme Adoption" oder schlicht als "Sterbelager" dienten.

Der Hauptteil der ZwangsarbeiterInnen war bei den Werften Kriegsmarinewerft, Germania-Werft, Howaldt-Werke und Deutsche Werke (Vorläufer von HDW) beschäftigt. Mit den praktisch kostenlosen Arbeitskräften saftige Gewinne erwirtschaftet haben ferner (laut genannter Liste) u.a. die Kieler Firmen Rudolf Prey, Walter-Werke, Elac, Hagenuk, Max Giese, Knudsen, Greve, Kobarg & Fünz, Bartels & Langneß und Poppe. Als "Arbeitgeber" tauchen in den Listen auch immer wieder staatliche Betriebe wie die Reichsbahn und auch die Stadt Kiel auf.

"Die Stadt als solche ist aber nicht haftbar", meinte Gansel, denn sie sei "als Teil der nationalsozialistischen Rüstungsmaschinerie selbst handlungsunfähig" gewesen. Überdies, so meinte Gansel deutlich machen zu müssen, habe es in Kiel "bei Wahlen, selbst bei der schon nicht mehr freien Wahl im Frühjahr 1933, nie eine Mehrheit für die Nazis" gegeben. Auch für die Unternehmen, die ZwangsarbeiterInnen ausbeuteten, gebe es im juristischen Sinne keine Haftungsverpflichtung. Er, Gansel, appelliere jedoch an diese Unternehmen, "an der gemeinsamen Geschichtsaufarbeitung mitzuwirken".

"Zwangsarbeit ist etwas außerordentlich Entwürdigendes", stellte der CDU-Fraktionsvorsitzende Wulff fest. Besonders "perfide: Die Zwangsarbeiter mussten Rüstungsgüter produzieren, die ihre eigene Heimat zerstörten." Das Thema jetzt zu diskutieren, sei auch ein "symbolischer Akt für die nicht mehr lebenden Zwangsarbeiter". Lutz Oschmann (Fraktionsvorsitzender Grüne) wies ferner darauf hin, man müsse der Auffassung vieler junger Leute, "Deutschland habe bereits genug gezahlt", gegensteuern.

Laue Appelle, viel mehr war trotz solcher "Bekenntnisse" nicht drin im einstimmig beschlossenen Antrag aller Fraktionen, auf den man sich auf Initiative eines grünen Antrags einigte. An die Firmen, die in der von Rethage präsentierten Liste genannt werden, wird "appelliert, sich am Entschädigungsfond der deutschen Wirtschaft zu beteiligen". Im ursprünglichen Antrag der Grünen war der OB noch aufgefordert worden, auf die beteiligten Kieler Firmen konkret einzuwirken, sich am Fond zu beteiligen. Die Kieler Bevölkerung "wird aufgerufen, durch noch vorhandene Kenntnisse und Material zur Aufarbeitung dieses Kapitels unserer Kieler Geschichte beizutragen." Der einzig wirklich substanzielle Teil des Beschlusses ist die Einrichtung von zwei ABM-Stellen, mit deren Hilfe das verstreute Material zur Zwangsarbeit in Kiel gesammelt und dokumentiert sowie die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ZwangsarbeiterInnen dargestellt werden sollen, auch im Hinblick auf Öffentlichkeitsarbeit und "in Kooperation mit Universität, Schulen und anderen gesellschaftlichen Institutionen". Der OB wird ferner gebeten, Bericht über die Verteilung der Mittel aus dem Fond an ehemalige ZwangsarbeiterInnen in Kiel zu erstatten.

Die Stadt selbst beabsichtigt keine Einzahlung in den Entschädigungsfond, denn die Forderung des ursprünglichen grünen Antrags, der OB möge "einen finanziellen Beitrag der LHS Kiel der Ratsversammlung zur Beschlussfassung vorschlagen", fehlt im letztlich beschlossenen interfraktionellen Antrag.

(jm)

"Die Tendenz, das nicht glauben zu wollen, was einen selbst beschämen musste, war wohl nie so deutlich, wie in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Im Süden Kiels, an der Grenze des Stadtteils Hassee zur Landgemeinde Russee, hatten die Nazis ein Konzentrationslager eingerichtet. Zur Tarnung trug es die Bezeichnung 'Arbeits-Erziehungslager' Zumeist waren es wohl Ausländer, die man hier eingesperrt hatte, doch weiß ich, dass dort ebenfalls Deutsche gefangen gehalten wurden. Trupps aus diesem AEL kamen unter Bewachung der SS auch zur Arbeit auf unsere Werft. In ihren längsgestreiften dünnen Mänteln fielen die krank und verhungert aussehenden Gestalten jedem auf! Während meiner Buchhaltungstätigkeit lief oft ein Beleg 'Sarg für AEL' durch. Als der Zusammenbruch in Sichtweite war, wurde bei uns in den Büros über die heikle Situation diskutiert, die eintreten müsste, wenn diese gequälten Menschen plötzlich frei sein würden. - Dennoch konnte man ein halbes Jahr später so viele Kieler Bürger fragen, wie man wollte: Von einem KZ in der Umgebung ihrer Stadt hatte angeblich niemand jemals gehört - obwohl dessen Baracken noch mindestens zehn Jahre nach Kriegsende dort gestanden haben!"

(aus: Johann Ohrtmann, "Sind Kriege notwendig? - Lebenserinnerungen eines Pazifisten und Schulmannes", Kiel 1995. Der Autor hat während des Krieges in der Buchhaltung der Deutschen Werke AG, einem HDW-Vorläufer, gearbeitet.)

"Der Stand des Bruttoanlagevermögens (der deutschen Industrie, LinX) bei Kriegsende (1945) lag um fast 21% über dem Stand von 1936 (...) Der Umfang der Investitionen (hat) die Bomben- und andere Kriegsschäden bei weitem aufgewogen. Deutschland stand am Ende des Krieges tatsächlich mit einem stärkeren industriellen Potenzial da, als bei Kriegsbeginn." (Anm. d. Red.: Die gestiegenen Investitionen wurden v.a. auch aus Raub und Sklavenarbeit finanziert.)

(Dietrich Eichholtz, "Geschichte der deutscehn Kriegswirtschaft 1939-1945", Band III: 1943-1945, Berlin 1996. Zit. nach Winfried Wolf, "Bombengeschäfte - Zur politischen Ökonomie des Kosovo-Krieges").

Kommentar zum Thema