Kommentar

Zynismus pur

Wenn sozialdemokratische Politiker dieser Tage auf antifaschistischen Kundgebungen sprechen, kann man sich in der Regel auf ein gerüttelt Maß an Zynismus gefasst machen. So war auch am 16.9. im holsteinischen Neumünster nichts anderes zu erwarten gewesen, wo sich die Ministerpräsidentin des Landes, Heide Simonis, angesagt hatte. Selbstkritische Worte kamen ihr, die anlässlich des Mordes an zehn Flüchtlingen im Januar 96 bei einem Brandanschlag in Lübeck v.a. die Lübecker Bürger bedauert hatte, dass sie schon wieder in die internationalen Schlagzeilen gerieten, selbstredend nicht über die Lippen. Auch verlor sie kein Wort zur Abschiebepraxis ihrer rosa-grünen Landesregierung oder zum im Bau befindlichen Abschiebeknast. Noch ließ sie durchblicken, dass man daran gehen wird, dort wo es möglich ist, faschistische Organisationen auf Landesebene zu verbieten. Ebenso wenig distanzierte sie sich von der Kriminalisierung antifaschistischer Organisationen, die v.a. ihr Verfassungsschutz betreibt.

Der Zynismus war allerdings noch zu überbieten. Vollmundig beschwor die Ministerpräsidentin die Zivilgesellschaft und rief zur Zivilcourage auf. Kaum war die Kundgebung vorbei, konnte man auf Neumünsters Straßen beobachten, was davon zu halten war. Da stürmten nämlich Greiftrupps von Polizei und Bundesgrenzschutz durch die Straßen und machten Jagd auf Antifaschisten. Wer es dennoch schaffte, sich dem Nazimarsch in den Weg zu setzen, wurde mit brachialer Gewalt weggeräumt und festgenommen. Man kann sogar sagen, dass die Beamten an diesem Tag das Geschäft der Nazis übernahmen. Die Opfer ihrer Hetzjagden waren alternativ gekleidete Jugendliche, Langhaarige und junge Menschen mit dunklem Teint. Als Anlass reichte schon ein Schal vor dem Gesicht oder eine Kapuze auf dem Kopf. Manchmal war nicht einmal das nötig. Schon im Vorfeld hatten Beamte in anreisenden Bussen der IG Metall gezielt und selektiv unangepasst gekleidete Jugendliche sowie alle mit dunkler Haar- und Hautfarbe kontrolliert. Und als der Nazi-Spuk schon vorbei war, wollte man noch mal eben das Autonome Jugendzentrum stürmen, auch das ein beliebtes Hass-Objekt der Nazis.

Die Polizei hatte bereits im Vorfeld mit einem Mitleid erheischenden Flugblatt für Verständnis geworben. Man müsse die Nazi-Demo leider schützen. Doch die Rechtfertigung hinkt. Die Verfassungsrichter, die zu schelten auch Simonis als geübte Populistin nicht versäumte, hatten den Behörden eindeutig die Möglichkeit eingeräumt, den Aufmarsch ggf. umzulenken. Außerdem ist die Polizei immer an das Gebot der Verhältnismäßigkeit gebunden. Davon kann aber wohl selbst für eine geübte Zynikerin kaum die Rede gewesen sein.

(wop)