Diskussion

Kiel, Anfang 2002

Offener Brief an die Redaktion der "LinX - sozialistische Zeitung für Kiel"

Liebe LinX Redaktion!

Wir schreiben Euch diesen offenen Brief als sozialistische AktivistInnen aus der Bewegung gegen den imperialistischen Angriff auf Afghanistan. Als solche haben wir uns in den letzten Monaten an dem Versuch Widerstand gegen den militärischen Angriff der Allianz von imperialistischen Staaten auf Afghanistan, die Besetzung des Landes durch u.a. deutsche SoldatInnen, dem unter dem Vorwand der Anschläge vom 11.9.2001 weiter vorangetriebenen Abbaus demokratischer Rechte sowie gegen die in diesem Zusammenhang erfolgte weitere Zuspitzung des gesellschaftlichen und staatlichen Rassismus, zu entwickeln beteiligt.

Seit dem 11.09.2001 werden SozialistInnen aller Couleur erneut auf die Probe gestellt: In den letzten Jahren zunehmend mit gesellschaftlicher Marginalisierung von auch nur ansatzweise "linken" Positionen – von revolutionären Positionen ganz zu schweigen! - konfrontiert, stehen wir Heute vor der Aufgabe, vor dem Hintergrund der reaktionären Anschläge des 11.September letzten Jahres und den in Zeiten des Krieges immer größeren Drucks zur Ruhe an der Heimatfront, einem erneut verschärften Zwang zur Anpassung, zur Aufgabe revolutionärer Programmatik und Aktivität zu widerstehen.

Bei der Aufgabe (revolutionär-) sozialistische Antworten auf den 9.11.2001 und die darauf folgende Kampagne der imperialistischen Staaten zu finden, könnte die LinX eine wichtige Rolle spielen, gar eine Organisatorin für die Diskussion in Kiel werden. Dieses wäre unsere Erwartung an eine Zeitung mit dem Untertitel "sozialistische Zeitung für Kiel".

Die LinX glänzte aber leider bei den Aktivitäten und Diskussionen der Ansätze zu einer "Anti-Kriegs-Bewegung", wie bei den meisten Diskussionen und Aktivitäten der radikalen Linken in Kiel in den letzten Jahren, vor allem durch Abwesenheit. (kein offener Verkauf der Zeitung auf Demonstrationen und Kundgebungen, keine Versuche Diskussionen mit AktivistInnen zu organisieren ...)

Wir unterstützen die Herangehensweise der Redaktion, die erklärt hat nicht das ZK (Zentralkomitee) der Kieler Linken spielen zu wollen. Falsch finden wir aber eine Herangehensweise, die alles was an radikaler Linke in Kiel noch vorhanden ist, als zu vernachlässigende "Szene" ab tut und stattdessen eine Politik vorbei an dieser versucht zu organisieren. Es wäre u.E. sehr wohl die Aufgabe einer LinX - Redaktion den Kontakt mit AktivistInnen der Linken von sich aus zu suchen, Diskussionen zu organisieren und für Berichterstattung über die Aktivitäten aktiv zu sorgen und schlussendlich (und nur dadurch kommt so ein Prozess überhaupt erst zustande) die LinX auch dort zu verkaufen, wo sich Linke organisieren und aktivieren! Dieses scheint aber nicht der Anspruch der momentanen Redaktion zu sein. SG hat dazu einiges in seinem Papier zu seinem Rücktritt aus der Redaktion geschrieben. Wir wollen deshalb nicht alles hier wiederholen. Das Papier liegt vor.

Die LinX – Redaktion hat sich angesichts der Konfrontation mit tiefen politischen Widersprüchen in ihren Reihen zur Einschätzung des 9.11. und den Folgen vollkommen unfähig gezeigt, einen praktischen Umgang mit diesen zu organisieren und sich stattdessen lieber noch mehr in ihren Elfenbeinturm zurückgezogen.

Ein Blick zurück:

Sozialimperialismus 1914

Als sich die alte deutsche Sozialdemokratie, die sich in den Jahren zuvor noch als Kraft gegen den schon lange offensichtlich drohenden Weltkrieg zu profilieren versucht hatte, im Herbst 1914 ganz konkret mit der Frage des imperialistischen Krieges auseinandersetzen musste, als im Reichstag die Frage nach der Bewilligung der Kriegskredite gestellt wurde, stimmte die SPD Reichstagsfraktion für diese Kredite, d.h. für die Finanzierung des Krieges der Bourgeoisie.

Von der "Tribüne" des Parlamentes aus, verkaufte sie dieses Verrat an ihrem eigenen Programm, aber natürlich nicht als Konzession an den preußischen Militarismus, als Verrat am proletarischen Internationalismus, sondern versuchte sich an einer "sozialdemokratischen" (und das hieß damals sozialistischen) Begründung. Sie argumentierte neben den wohl bekannten Argumentationen "Präventivkrieg" und "Vaterlandsverteidigung", eben auch mit der These, dass der Angriff auf das zaristische Russland ein gerechter Krieg im Sinne der "sozialistischen Sache" wäre. Dazu wurden dann Marx und Engels Zitate herausgesucht und entstellt um – völlig abstrus – eine Übereinstimmung der imperialistischen Kriegspolitik der Partei mit einer sozialistischen Grundorientierung zu beweisen und den KritikerInnen vom linken Flügel der Partei somit den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Und das ging so:

Jenes "Völkergefängnis", das zaristische Russland sollte durch die Intervention (die natürlich nur eine "Verteidigung" war....) des deutschen Militärs zivilisiert, d.h. in die kapitalistische Moderne gezwungen werden. Die Grundlage für die Entwicklung Russlands zum Sozialismus und das hieß für diese SozialdemokratInnen mit ihrer Etappentheorie und Vorstellung vom "Hinüberwachsen" in den Sozialismus, natürlich erst mal zum modernen Kapitalismus, sollte durch das kaiserliche Heer bereitet werden.

Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und viele andere Revolutionäre aus der deutschen ArbeiterInnenbewegung, die diesen Kapitulation vor der nationalen Bourgeoisie nicht mitragen wollten, bezeichneten diese Politik als Sozialimperialismus bzw. Sozialchauvinismus und bekämpften sie offen.

Sozialimperialismus fast hundert Jahre später

Nach dem 11.09.2001 und dem Angriff auf Afghanistan sehen wir uns erneut mit Parolen für die "Verteidigung der Grundlage der Zivilisation" und einer "Politik unter Berücksichtigung der realen imperialistischen Begebenheiten" und daraus abgeleiteten Forderungen wie die Ausweitung des Krieges auf ganze Regionen der Erde konfrontiert. Wieder einmal geht es angeblich darum, den Menschen im vom Imperialismus angegriffenen Land, Möglichkeiten für eine sozialistischen Entwicklung zu ermöglichen, indem imperialistische Truppen das Land "zivilisieren". Der zigste Aufguss des Sozialimperialismus.

Unter dem Banner dieser Logik macht sich erneut eine Fraktion ehemaliger revolutionärer Linker auf, um sich dem Imperialismus als Propagandatruppe an zu dienen und die eigene revolutionäre Identität auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen. Dieser Vorgang hat "Tradition", schon immer war die Frage der Haltung zum Kriege, eine der zentralen Bruchlinien in revolutionären Bewegungen. (Von der Entwicklung kleinbürgerlicher Formationen wie der Grünen Partei mal ganz abgesehen.) Die Frage der Haltung zum Kriege war und ist Gradmesser zwischen Revolution und Reformismus, zwischen Opposition und Opportunismus. Denn in dieser Frage gibt es faktisch kein "aber" und kein "sowohl als auch".

Krieg als die Zuspitzung von Politik zwingt zur klaren Positionierung.

BG & W. Jard

Am genauesten und konsequentesten bringt BG aus der LinX-Redaktion die Logik dieser neuen Mobilisierung des Sozialimperialismus in der LinX 25/2001 unter dem Titel "Sozialpazifismus!" zu Papier. Er fordert die Linke auf "eigene Positionen" zu beziehen und zwar für "Multilaterale militärische Intervention in Afghanistan (Irak, Pakistan, Saudi-Arabien...)"

BG geht im Gegensatz zu großen Teilen der sogenannten antideutschen Linken und ihrem Zentralorgan bahamas, die einer ganz ähnlichen Logik verfallen ist, aber noch über diese Forderung des "Krieges gegen den fundamentalistischen Islam" im Namen der angeblich zivilisierten kapitalistischen Weltordnung hinaus, denn er will diese militärische Operation nicht in us-amerikanischen Händen (weil: böser Imperialismus) wissen, sondern lieber in den Händen einer "multilateralen" Eingreiftruppe, was unter den realen Kräftekonstellationen im imperialistischen Lager nur heißen kann: unter einer europäischen, tendenziell deutschen militärischen Führung.

BG könnte sich mit diesem Artikel, ohne weiteres bei irgendeinem strategischen Planungsstab des deutschen Imperialismus bewerben. Bloß ist er seiner Zeit natürlich ein paar Jahre voraus, eine offene Konfrontation mit den USA, ein militärisch untermauerter Anspruch auf die "Führungsrolle" ist zur Zeit nicht absehbar, wenn auch latent im Verhältnis der imperialistischen Staaten angelegt.

BG steht in der Redaktion der LinX mit seinen Positionen nicht allein. Wenn auch nicht so offensiv, wie bei BG formuliert, auch W. Jard spricht sich für den Angriff auf Afghanistan aus.

Es schweigt die Redaktion:

Auf in den atomaren Krieg!

Wir sehen Positionen, wie die von BG und W.Jard relativ gelassen. Solange sie sich nicht wirklich mit solchen Parolen – wie z.B. mit der Forderung nach "multilateraler Intervention" - versuchen sollten irgendwo, außerhalb der LinX – Redaktion zu intervenieren, sehe wir nicht die Notwendigkeit sich konkreter mit ihren Artikeln auseinander zusetzen. Einen wirklichen Einfluss auf Teile der aktiven KriegsgegnerInnen oder gar die Bevölkerung im Allgemeinen haben sie mit ihren Thesen nicht. Dort liegt auch der Unterschied zum Kampf gegen während Sozialimperialismus im Ersten Weltkrieg. Heute haben wir uns mit ganz anderen Ideologien und Bewusstseinszuständen auseinander zusetzen.

Uns treibt aber die Sorge um die endgültige Liquidierung der LinX, als Mittel beim Prozess der Rekonstruktion einer revolutionären Linken in Kiel um. Bei aller Distanz zur LinX, die wir vor allem in der Entfremdung von großen Teilen der Redaktion von irgendeiner Art der realen Politik begründet sehen, wissen wir darum, dass der Niedergang der LinX nicht in unserem Interesse sein kann. Wir wollen und brauchen eine "sozialistische Zeitung" für Kiel.

Wir fragen uns, warum druckt eine "sozialistische Zeitung" pro-imperialistische Positionen mehrerer ihrer Redakteure ab, ohne dass es danach in der Redaktion zu einer Aussprache und einer anschließenden Positionierung kommt? Warum findet sich in der nachfolgenden Nummer der LinX keine solche Positionierung der Redaktion, ja überhaupt kein Artikel zum Krieg? Und das obwohl pünktlich zum Redaktionsschluss eine direkte deutsche Beteiligung am Krieg nur noch eine Frage von Tagen war. Bis zum Heutigen Tage ist eine solche Positionierung der Redaktion nicht erfolgt. GenossInnen aus der LinX - Redaktion haben stattdessen außerhalb der Zeitung darauf bestanden, dass auch solche Positionen wie die von BG und W.Jard im Rahmen der "Pluralität" der Redaktion und der Zeitung auf Dauer ihren Platz hätten.

Der "neue(n) Generation (die sich) politisiert und wie selbstverständlich nach den Zusammenhängen fragt." (Zitat wop aus LinX), wird nun von Teilen der LinX – Redaktion die Forderung nach einem imperialistischen Krieg zwischen Atommächten als Parole angeboten. Der Rest der Redaktion bucht dieses unter "Pluralismus" ab und schweigt dazu.

Wir sind insofern doch ganz froh, dass diese Zeitung nicht dort verkauft wurde, wo sich genau dieser von wop so schön analysierte Prozess abspielt. Vielen Dank auch!

Aber ernsthaft: Wir meinen, die Redaktion einer "sozialistische Zeitung" hat die Aufgabe und Pflicht sich zur Fragen des Krieges klar zu positionieren.

Damit wir nicht falsch verstanden werden: Wir sind keine PazifistInnen, die unter der Parole "Es gibt keinen gerechten Krieg", die grundsätzliche Ablehnung von Kriegen einfordern. Eine Untersuchung des Charakters eines jeden Krieges halten wir für die Voraussetzung einer Positionierung. Eine Diskussionsprozess, der natürlich auch kontrovers geführt werden muss ist also notwendig. Auch wir haben diese Diskussionen geführt.

Aber genau diesen Prozess sehen wir in der LinX eben nicht. Dort wird ganz im Gegenteil, die Position vertreten, dass das Ziel der Orientierung auf eine grundsätzliche Herangehensweise eigentlich gar nicht anzustreben ist, weil beide Positionen "ihre Berechtigung haben". Artikel beider Positionen stehen vollkommen unvermittelt nebeneinander.

Unsere Mitarbeit an einer klarer positionierten und orientierten LinX steht außer Frage. Wie eine solche LinX aussehen sollte, würden wir gerne mit Euch diskutieren. Uns ist auch klar, dass die LinX von viel zu wenigen GenossInnen getragen zu werden und sich daraus Probleme für die Redaktion bilden. Aber die Gründe für diesen Zustand sind nicht nur nach außen zu projizieren, wie das die Redaktion bisher getan hat, Ursachen müssen auch nach innen gesucht werden. In diesem Sinne soll dieser Beitrag verstanden werden.

Es sei aber auch gesagt, dass eine LinX, die sich auch weiterhin in ihrem Elfenbeinturm einschließt, statt sich mit der Realität auseinander zu setzen und die zudem Raum für die offene Propagierung des imperialistischen Krieges zur Verfügung stellt, unseres Erachtens vollkommen überflüssig ist.

LJ; SG; JS

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