Krieg & Frieden

Zur Debatte um die Folgen des 11. September

Sozialpazifismus!

Nach wop's Lesart (LinX 22/01) haben die Amis halb Manhattan und auch einen Teil ihres Verteidigungsministeriums geopfert, um - trickreich - indirekt in Zentralasien gelegene Ölquellen zu umzingeln. Zu einer Zeit, wo der Ölpreis pro Barrel so niedrig ist wie seit Jahren nicht mehr. Jean Ziegler vom UN-Hochkommissariat für Menschenrechte verlangt, dass "das Bomben aufhören muss", damit stattdessen massenhaft Hilfslieferungen nach Afghanistan gebracht werden können, in ein Land, in dem Mitglieder von Hilfsorganisationen als Geiseln genommen wurden. Vor 6 Wochen wäre das gleichbedeutend mit einem Fortbestand des Taliban-Regimes in Afghanistan gewesen, was angeblich "eine humanitäre Katastrophe unglaublichen Ausmaßes" verhindert hätte, die folglich noch nicht da war. "sg" meint, nur Anti-Kriegs-Artikel hätten was "in einer sich als sozialistisch verstehenden Zeitung" zu suchen.

Nach wop (LinX 24/01) soll man desweiteren eine "Bilanz" aufmachen, in der einfach alle politischen Veränderungen nach dem 11. September eingerechnet werden, die unter dem Strich eine rote Zahl, also einen politischen Verlust für die Linke, ergeben. Davon soll die Linke sich beeindrucken lassen und das subsummierte Paket insgesamt ablehnen, inclusive, natürlich, des "imperialistischen Kreuzzugs". Die DFG-VK meint, gemäß ihres Auftrages: "Wir können unsere Sicherheit nur erhöhen, wenn wir mit einer militärfreien, gerechten Weltwirtschaftsordnung versuchen, die Ursachen von Kriegen und Bürgerkriegen zu beseitigen." Das ist zwar grundsätzlich wahr, aber keine Antwort auf die Frage, wie mit einem konkreten Fall von Barbarei unter den Vorzeichen einer militaristischen, ungerechten Weltwirtschaftsordnung zu verfahren ist. Die FAU Flensburg analysiert: "Die westlichen Länder und Großkonzerne können nicht überall Kriege führen und repressive Diktaturen unterstützen, ohne dass ihre Feinde zurückschlagen". Im gleichen Beitrag (Gegenwind 159) haben sie fein herausgearbeitet, dass es eben nicht die "Feinde", sondern die unterstützten repressiven Diktaturen waren, die zurückgeschlagen haben. Avanti/Projekt undogmatische Linke unterstützt die wöchentlichen Anti-Kriegsdemos mit der Vision: "Schluss mit Krieg und Repression! Eine andere Welt ist möglich!"

Das ist der linke Mainstream. Sicher, es gibt noch die Antideutschen ("Solidarität mit Israel") und die Jungle World, aber die dürfen nicht mehr mitreden, weil sie angeblich in der neoliberalen Realität angekommen sind, in die sie schon immer gewollt haben.

Soweit ich es sehe, ist der imperialistischen Führungsmacht ihr Zögling ein wenig missraten, so dass sie sich genötigt sieht, diesen mit - zugegebenermassen - nicht immer mit Leitsätzen der modernen Sozialpädagogik kompatiblen Mitteln zur Ordnung zu rufen. Dass dabei auch Unschuldige zerbombt werden und verhungern - keine Frage.

Der Zögling versucht offenbar, einen Konflikt zum Hauptwiderspruch hochzustilisieren, der nicht auf die Überwindung der Kapitalherrschaft, sondern auf den Rückfall vor die bürgerliche Revolution abzielt. In dieser Situation die Exekutoren aufzufordern, von ihrer Strafaktion abzusehen, womöglich, wie es der Runde Tisch formuliert, "für ein friedliches Miteinander der Kulturen" einzutreten, ist Sozialpazifismus, wie ihn Lenin 1917 Kautsky vorgeworfen hat. Im schlimmsten Fall geboren aus der Sorge, das europäische Kapital könne damit in eine "Spirale der Gewalt" hineingezogen werden, die zu seinem Schaden wäre, im günstigsten Fall aus Sorge über die zunehmende Repression gegen das eigene Biotop. Aber die Ablehnung der Reaktion der imperialistischen Gemeinschaft ersetzt keine eigene Position der Linken.

Soweit es sich um Anti-Interventionismus handelt, steht er auf wackligen Beinen: Nahrungsmittelhilfen ohne jede militärische Massnahmen (das müssen natürlich nicht Streubomben sein!) einem Banditensystem wie in Afghanistan zu überlassen, kann mitunter kaum noch einen humanitären Charakter haben. Und immer darauf herumzureiten, dass es keine gerichtsverwertbaren Beweise gegen Bin Ladens Organisation gibt, lässt die Interpretation offen, die (mittlerweise historische) Herrschaft der Taliban dürfe nicht in Frage gestellt werden, wenn sie nicht einen mutmaßlichen Terroristenchef verstecken.

Vor gut 7 Jahren, am 7. April 1994, wurde durch den Abschuss eines Flugzeuges mit zwei afrikanischen Präsidenten an Bord ein Völkermord ausgelöst, in dessen Folge sich die UNO und die in ihr maßgeblichen Staaten wie z.B. die USA eigentlich den (verhaltenen) Applaus von wop, Jean Ziegler und all den anderen linken Friedensfreunden verdient gehabt hätten. Gut 1,5 Millionen Menschen, innerhalb der ersten 100 Tage allein 800.000 Tutsi und gemäßigte Hutu, später überwiegend Hutu, fast ein Viertel der Bevölkerung Ruandas, fielen diesem Holocaust zum Opfer, und obwohl die Geschehnisse den UN-Behörden keineswegs verborgen blieben, unternahmen sie - nichts. D.h., zunächst zogen sie sogar Teile des MINUAR-Kontingents aus dem Land zurück. 270 verbliebene Belgier konnten kaum Sorge um ihre eigene Haut tragen. Die europäische Linke hat sich zu diesen Geschehnissen nicht verhalten, und die UN-Diplomaten vermieden sorgfältig die Bezeichnung "Genozid", die ein militärisches Eingreifen zwingend erforderlich gemacht hätte. Erst als Flüsse Unmengen von Leichen in die Nachbarstaaten schwemmten, schickte die UNO wieder mehr Truppen, die aber nur die Flüchtlingslager vor dem Bürgerkrieg schützen sollten, nicht aber in selbigen eingriffen. Die FPR eroberte die Macht, in den Lagern mussten die verfeindeten Stämme eng zusammenleben, während Seuchen auch dort weiterhin massenhaft Opfer forderten. Hilfslieferungen gab es auch - prima gemacht, UNO? Es gab keine offizielle Kriegserklärung, folglich herrschte und herrscht noch immer Frieden in Ruanda. Gut so?

Es wäre an der Zeit, die Amerikaner zu einer Wende in ihrer Aussenpolitik aufzufordern, was natürlich mit einer Änderung ihrer Rolle in der UNO einhergehen müsste. Dazu könnten ein Ende des Kuba-Embargos und der CIA-Aktivitäten in Lateinamerika, Philippinen und wer weiss wo gehören, und natürlich, eine gänzlich andere Nahostpolitik. Dieses Feld aber überlässt die Linke medienbewussten Europapolitikern wie Möllemann, der Israel "Staatsterrorismus" vorwarf. Stattdessen gibt sie sich der Illusion hin, die Marginalisierten seien zu ihrem terroristischen Handeln durch die imperialistische Außenpolitik der USA gedrängt worden. Wenn's doch nur die Marginalisierten wären!

Ob dieser Einschätzung häufig solche "Unstreitigkeiten", wie wop sie behauptet, zugrundeliegen, kann ich natürlich schwer einschätzen: Ob die restlichen Mitglieder der westlichen Wertegemeinschaft eher zu den Getriebenen gehören - ich hatte z.B. den Eindruck, daß die Deutschen ihre militärische Hilfe auf jeden Fall aufdrängen wollten, auch wenn sie gar nicht nachgefragt wurde, von den Briten mal gar nicht zu reden; ob das "unermessliche Leid, das der Krieg heraufbeschwört, den Nährboden für weitere Frustration und damit auch für Fanatismus bilden wird" - mir kam es so vor, als wäre der Fanatismus schon da und hätte sich so hervorragend ausgebreitet, gerade weil ihm nicht der Krieg erklärt wurde (doch, vor ein paar Jahren, von den Sowjets, siehe W.Jards "Einmarsch begrüßen?" - der Erfolg wurde jedoch durch die bekannte Supermacht vereitelt).

Ob die Motive in Erdölfeldern nördlich des Talibangürtels liegen - finde ich völlig abwegig, wenn ich mir den Zusammenbruch der Börsen nach dem 11. September angucke, da fallen mir doch ein Haufen naheliegenderer Motive ein, die auch was mit Wirtschaft zu tun haben, welche ohne gewisse Rahmenbedingungen ebensowenig gedeihen kann wie der gemeine, linke Endverbraucher. Ob die USA ein nicht unwesentliches Militärkontingent nach dem Krieg vor Ort lassen werden - es gab schon andere Irrtümer in Bezug auf das Verhalten der US-Administration, die oft darauf zurückzuführen sind, dass die politischen Entscheidungen in G.W.Bush personifiziert werden - der Mann regiert Amerika gar nicht, mag er reden, wie er will (und das ist häufig kein intellektueller Gaumenschmaus), sondern das Kapital, das sich seine Entscheidungen sehr wohl überlegt, wie sich an der Bündnispolitik und der militärischen Zusammenarbeit bisher schon gezeigt hat.

Ebenso geirrt hat man sich in der Propagandapolitik der USA. Jeder gute Friedensfreund hätte doch Stein und Bein geschworen, dass die Amis sich auf Bin Laden und die Taliban einschießen, ihnen alles zur Last legen, was den Angriff auf Afghanistan irgendwie rechtfertigen könnte. Im Falle der Milzbrandanschläge ließ das FBI aber verlauten, es handele sich sehr wahrscheinlich um Urheber im eigenen Land, die vielleicht nicht einmal mit Al-Qaida zusammenhängen. Warum das?

Vielleicht wird man sich auch in der Nahostpolitik der Amis irren. Nicht, weil die Amis jetzt zu den Guten und Gerechten mutiert wären, die auch den Palästinensern mal ein Korn gönnen. Sondern weil sie ohne solche begleitenden Maßnahmen mittelfristig diesen Krieg verlieren werden, wie schon in Indochina. Nur der inhärente Antiamerikanismus der Linken unterstellt ihnen eine Omnipotenz, die durch die Geschichte nach 1945 nicht belegt werden kann. Das eigenmächtige Vorgehen der Nordallianz legt davon beredtes Zeugnis ab.

Ob es einen "breiten Protest" gegen den Krieg gibt? Ich kann den nicht ausmachen, und wenn er denn überhaupt da war, meist angetrieben vom St-Florians-Prinzip: In Ruanda, da betrifft einen das Sterben nicht, aber ein Konflikt mit dem Islamismus, das könnte einem das Geschäft ruinieren, wenn nicht sogar die eigene Gesundheit. Stillhalten und Nahrungsmittel liefern - wenn das die "neue Generation" ist, die sich politisiert und "wie selbstverständlich nach Zusammenhängen fragt", dann ist das nicht das Ende vom Ende der Geschichte, sondern das Ende der sozialistischen Idee, deren Zusammenhänge nicht bloss der friedlichen Koexistenz von globalem Kapitalfluss und partikularisierter, ideologischer Beliebigkeit dienen.

Da der Sozialpazifist alle Antiterrormaßnahmen als imperialistisch geoutet und daher verworfen hat, kann und braucht er sich die Frage nach dem Nutzen der einzelnen Details nicht mehr zu stellen. Das Religionsprivileg z.B. braucht wohl nicht grad von der deutschen Linken verteidigt werden. Hat sich die verschärften Sicherheitsmaßnahmen am Flughafen auch der CIA ausgedacht, um die Weltrevolution zu verhindern? Fluggesellschaften sind Kapital, und es ist offensichtlich, dass dieses Kapital besser ohne die Anschläge vom 11. September ausgekommen wäre, wie auch ohne die Sicherheitsmaßnahmen im Flugzeug.

Biometrische Daten im deutschen Personalausweis hingegen, den die vermuteten Terroristen in der Regel nicht besitzen, das hört sich eher nach den Allmachtsphantasien eines deutschen Innenministers an, wie auch die Wiedereinführung der Rasterfahndung, deren Erfolg auch von Kriminologen in Zweifel gezogen wird. Erleichterte Abschiebung von straffälligen Ausländern, wenn die Terroristen gar nicht straffällig werden? Abschiebung von Mitgliedern "verdächtiger" Organisationen - man kann sich ausmalen, welche das über kurz oder lang sein werden. Schilys Sicherheitspakete zielen nicht auf Terroristen, sie zielen auf Überwachung jeder Abweichung, besonders der Linken, und das ist auch deshalb so wahrscheinlich, weil Schily die Entwürfe dafür offenbar schon vor dem 11. September in der Schublade, zumindest im Kopf hatte, es aber zu peinlich fand, sie öffentlich zu präsentieren. Die Akzeptanz für flächendeckende Videoüberwachung wie in England steigt enorm, obwohl damit ja überhaupt kein verbesserter Schutz vor terroristischen Verschwörungen und Selbstmordattentaten erreicht werden kann.

Es wäre vielleicht schlau gewesen, in Binnenwidersprüche zwischen bluttriefendem Steinzeitklerus und Neoliberalismus nicht einzugreifen, sondern eigene Position zu beziehen, z.B. unter dem Motto:

Solidarität mit den USA - niemals! Multilaterale militärische Intervention in Afghanistan (Irak, Pakistan, Saudi-Arabien...) aber schon! Paradigmenwechsel in der US-Außenpolitik - um mal eine populäre Forderung zu stellen, die nicht Gefahr läuft, erfüllt zu werden!

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