Flüchtlinge

Hafenstraßen-Prozess:

Anklage löst sich in Luft auf

Eigentlich hatte sich Staatsanwalt Martens die Sache wohl ein wenig anders vorgestellt, oder zumindest seine Kollegen in Lübeck, von denen er den Fall übernommen hatte. Vor dem hiesigen Landgericht vertritt er derzeit die Anklage gegen Safwan Eid und muss mit ansehen, wie sich auch die letzten Reste der Vorwürfe in Luft auflösen. Der 23jährige Libanesen wird beschuldigt, im Januar '96 jenen Brand in einem Lübecker Flüchtlingsheim gelegt zu haben, der seinerzeit für internationale Schlagzeilen sorgte. 10 Menschen starben in den Flammen. Eid und seine Familie konnten sich selbst nur mit Mühe aus den Flammen retten.

Dennoch zeigten sich die Lübecker Ermittlungsbehörden auffällig bemüht, auf Biegen und Brechen eine Indizienkette gegen den jungen Mann zusammenzuzimmern. Für andere, wesentlich deutlichere Spuren, die ins rechtsextreme Milieu führten, zeigte man dagegen kein Interesse. Als alles nichts half, verfiel man darauf, Eid, der inzwischen in Untersuchungshaft saß, abzuhören. Illegal, wie ein Lübecker Gericht in einem ersten Prozess befand. Das Verfahren endete mit Freispruch. "Legal", meinte hingegen der deutsche Bundesgerichtshof und verwies das Verfahren zur Revision nach Kiel.

Dort hört man sich daher nun die Abhörprotokolle mit Hilfe zweier Übersetzer an, jene Bänder die so viel Belastendes enthalten sollen, wie Lübecks Staatsanwaltschaft seinerzeit nicht zögerte, den Medien mitzuteilen. Die griffen die Story begierig auf. Schließlich hatte Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) die Linie längst vorgegeben: Nicht die Opfer waren v.a. zu bemitleiden, sondern die Lübecker Bürger, weil ihre Stadt schon wieder wegen eines rassistischen Anschlags schlechte internationale Presse bekam. Da traf es sich gut, dass es in Wirklichkeit "einer von denen" gewesen sein soll.

Doch zwei Jahre später fördert das quälend langsame Abspielen der Geprächs-Mitschnitte nur zweierlei zu Tage: Mit der Technik deutscher Abhörspezialisten ist es nicht zum Besten bestellt, und die Übersetzung ist ein schwieriges, alles andere als eindeutiges Geschäft. Von Schuldeingeständissen, die der Lübecker Staatsanwalt Michael Böckenhauer entdeckt haben wollte, keine Spur.

"Ich habe alle zum Schweigen gebracht", sollte Safwans Bruder unter Anspielung auf die anderen Hausbewohner ihm mitgeteilt haben. Keiner würde gegen ihn aussagen. So steht es in der Übersetzung, die das Bundeskriminalamt (BKA) für die Lübecker angefertigt hatte. Der Autor dieser Übersetzung konnte allerdings vergangene Woche vor dem Kieler Gericht diesen Satz an der angegebenen Stelle genauso wenig wiederfinden wie ein zweiter Sprachsachverständiger. Der BKA-Mann entdeckte ihn dann aber doch noch woanders, wo sein Kollege allerdings einen vollkommen anderen Satz verstand. Und wie sich dann zeigte, ließ sich jene Aussage, die der BKA-Spezialist auf arabisch verstand, auch mit "Ich habe sie alle beruhigt" übersetzen. Die Verteidigung, die bereits zuvor vergeblich versucht hatte, den BKAler wegen Befangenheit aus dem Prozess zu kicken, sah darin ein weiteres Indiz, dass der Übersetzer vielleicht schon im Voraus gewusst haben könnte, was für ein Ergebnis gebraucht wurde.

Aber es kam noch dicker. Am Ende des dritten Verhandlungstages, Gericht und Zuhörerschaft drohten im Crash-Kurs über arabische Phonetik und Semantik bereits den Überblick zu verlieren, ließ der BKA-Übersetzer eine kleine Bombe platzen. Er müsse etwas richtig stellen: Dort, wo Eid in seiner schriftlichen Version sagt: "Wenn ich gestehen würde, was würde geschehen?" sei ein Computer-Fehler unterlaufen. In Wirklichkeit müsse es heißen: "Wenn ich gestorben wäre, was wäre dann passiert?" Der Irrtum sei das Ergebnis eines Konvertierungsfehlers, der geschah, als er den Text mit einem anderen Computer ausdrucken wollte. Auf den Irrtum habe er die ermittelnden Beamten bereits Anfang März '96 aufmerksam gemacht, als er in Lübeck bei einer Vernehmung Eids anwesend war.

An dieser Stelle wurden die beiden Verteidigerinnen des Angeklagten hellhörig. Warum, so hielt Gabriele Heinecke dem Sachverständigen vor, habe er das dann nicht auch schriftlich nachgereicht? Immerhin war der folgenschwere Fehler bis zum heutigen Tag unkorrigiert in den Akten geblieben. Besonders interessierte die Verteidigung, ob denn auch der für die Ermittlungen zuständige Staatsanwaltschaft Böckenhauer im Raum gewesen sei, als der Irrtum erwähnt wurde. Es sei doch auffällig, so Rechtsanwältin Barbara Klawitter, dass dieser eben zu jener Zeit händeringend nach Indizien gesucht habe, um Safwan Eid anklagen zu können.

Selbstredend konnte sich der BKA-Experte nicht mehr erinnern, wen genau er informiert hatte. Und Böckenhauer erklärte dem Gericht zwischenzeitlich auf Anfrage - oh Wunder - er wisse von nichts. Staatsanwalt Martens versucht indes, die Sache runterzukochen: Böckenhauer habe die Passage ja gar nicht in seinem seinerzeitigen Beweisantrag vor dem Lübecker Gericht verwendet. Heinecke macht hingegen eben das stutzig. Der Staatsanwalt könnte darauf verzichtet haben, weil er um den Fehler wusste.

Der Prozess wird sich noch eine ganze Weile weiter hinschleppen. An eine Verurteilung glaubt zwar keiner mehr, aber Hauptsache der Falsche steht vor Gericht, damit die Richtigen nicht ermittelt werden müssen.

Die "Kieler Nachrichten" berichten indes fleißig über die Verhandlungen und finden die Verteidigung viel zu aggressiv. Auf die oben erwähnten Ergebnisse verschwendeten sie allerdings keine einzige ihrer kostbaren Zeilen. Der Kollege hatte schon Feierabend.

(wop)