Kultur

DIETRICH KITTNER in der Pumpe

Übertreibung unmöglich!

18. Januar 1996. In der Lübecker Hafenstraße geht ein Flüchtlingsheim in Flammen auf, mit ihm zehn Menschen. Wer hat da gezündelt, wer ist's gewesen? Das fragt sich nicht nur die Justiz, sondern auch "Kittners kritisches Kabarett". Eine "Lübecker Moritat" stimmt er als Melone tragender Jahrmarktschreier an: Herein spaziert in ein deutsches Schauermärchen, das leider böse Wahrheit ist. Herein spaziert in einen Justizskandal, der irgendwie typisch deutsch ist.

(Foto: Promo)

In der "Ballade über die Unschuld im Lande" rollt Kittner den Fall noch einmal auf. Da waren die vier Neonazis aus Grevesmühlen, die in der Nähe des Tatorts gesichtetet wurden und deren Haare versengt waren. Sogar Geständnisse haben sie abgelegt. Gewesen sind sie's trotzdem nicht. Denn das ist eine deutsche Kontinuität seit 1945: "Wir war'n es nicht, wir sind es nie gewesen!" Es kann nicht sein, was nicht darf. So kamen die Nazis "geschoren und gingen ungeschoren" und bereits zum zweiten Mal steht nunmehr nicht der Brandstifter, sondern eines seiner Opfer vor dem Kieler Landgericht, der Libanese Safwan Eid. Kittner verrät, warum. Hier liege ein besonders schwerer Fall von Heimtücke vor. Der Libanese habe den Brand gelegt, "damit man ihm nichts nachweisen kann. Der Gipfel der Heimtücke": Er hat das Feuer so gelegt, dass selbst die Naturgesetze außer Kraft gesetzt wurden. Das Brand beschleunigende Benzin floss bergauf, die Glassplitter einer Scheibe im Erdgeschoss rühren nicht etwa von denen her, die von außen eindrangen, sondern wurden "von der Explosion nach innen gesogen". Und frecherweise hat der Angeklagte nicht mal ein Motiv. Sollten es doch die Versengten gewesen sein, dann haben sie es keinesfalls als Nazis getan, sondern als "unpolitische Verwirrte".

Das Lachen über Kittners fein ausbalancierte Wortspiele bleibt hier oft genug im Halse stecken, denn - "Merkt ihr was?": Die Wirklichkeit ist den schlimmsten Szenarien des Satirikers immer noch einen Schritt voraus. Übertreibung unmöglich! Der IG-Farben-Aktionär, der Entschädigung für in Auschwitz "bei Kriegsende zurückgelassene Produktionsmittel" verlangt, ist nicht etwa eine Überspitzung aus Kittners Feder, ihn gibt es wirklich. "Ich kommentiere das nicht mehr", resigniert Kittner. Aber dennoch wird er nicht müde, den großen Bogen zu schlagen: Vom deutschen Biedermann, der "Wow-TV" für intellektuell hält und nicht mehr weiß, was ein Buch ist ("Internet ohne Strom, Hand-Surfen!"), zu den Brandstiftern in den Polit-Etagen, die im Kosovo "Nazi-, 'tschuldigung, NATO-Bomben" werfen. Trotz alledem: Kittner, der manchmal verzweifelt ernst wird, lässt uns mit Schalk im Blick die Worte des "Kriegsministers" Scharping auf der Zunge zergehen. Der humanitäre Einsatz im Kosovo solle "die deutsche Schuld verblassen lassen". O-Ton, den der Satiriker dem Politiker nicht treffender hätte in den Mund legen können. "Merkt ihr was?"

Der Realität, die die Satire an Wahn nicht mehr übertrumpfen kann, spürte im Anschluss an Kittners Auftritt der Journalist Andreas Juhnke nach. In seinem Buch "Brandherd - Der zehnfache Mord von Lübeck, ein Kriminalfall wird zum Politikum" vertritt er eine interessante These: Offenbar hatte nicht nur die "große Politik" ein Interesse daran, gegen die Grevesmühlener Verdächtigen nur "großzügig über den Daumen zu ermitteln". Juhnke hat in seiner umfangreichen Recherche vielmehr Hinweise darauf gefunden, dass die Erkenntnisse über die Haarversengungen der Verdächtigen bereits auf der unter Ermittlungsebene abgeblockt und erst mit großer zeitlicher Verzögerung der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis gebracht wurden, deren rassistischer Ermittlungsführung dies freilich gut in den Kram passte. Juhnke vermutet, dass einer der Grevesmühlener ein V-Mann war, der gedeckt werden sollte. Dies wirft ein neues Licht auch auf einen möglichen Prozess gegen die Grevesmühlener, den Safwans Eids Verteidigerinnen derzeit durchzusetzen versuchen.

(jm)