Betrieb & Gewerkschaft

Kampf um Arbeitsplätze oder Existenzgeld?

Für ein öffentliches Streitgespräch über linke Strategien gegen Massenarbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und Lohnarbeit

Die gute alte Zeit der sog. Vollbeschäftigung ist schon lange vorbei. Der ganz gewöhnliche Kapitalismus, massenhafte Existenzunsicherheit und Armut bei gleichzeitig überbordendem Reichtum, ist nicht mehr nur ein Thema für die Berichterstattung aus fernen Ländern hauptsächlich der sog. "dritten Welt", er kann wieder vor der Haustür live studiert werden. Marx ist, wie der Spiegel vor einem knappen Jahr titelte, "ganz modern".

"Wir selbst" seien, konstatierte Karl Heinz Roth (KHR) in seinem Referat über "Die Wiederkehr der Proletarität" auf dem konkret-Kongreß 1993, "zunehmend Objekt" dessen, was er damals "die ... neuen Proletarisierungsprozesse" nannte. "Wir" - das sind die Angehörigen einer politischen Linken, die sich daran gewöhnt hat, über kapitalistische Ausbeutung so zu sprechen wie etwa ein Arzt über die Krankheit seines Patienten, und die in ihrem "eigenen Alltag" mittlerweile in wachsendem Maße jene "reale Verelendung" ins Auge fassen muß, die sie in ihren politischen Diskursen als "die eigene" immer noch allzu gerne "verdrängen" möchte, wie ebenda KHR diagnostizierte.

In Kiel hatten sich im vergangenen Jahr viele mehr oder weniger vom allgemeinen Sozialdumping direkt "Betroffene" im "Aktionskreis Sozialer Unfrieden" zusammengefunden, um mit verschiedenen phantasievollen Protestaktionen auf die neuesten Streichungsschweinereien durch Verwaltung und Rat der Stadt zu reagieren, die mit dem Amtsantritt des direkt gewählten OB Norbert Gansel deutlich forciert worden waren. Die Aktionen des "Unfriedens" machten uns viel Spaß und zeigten im Rathaus Wirkung: Einige Streichungsandrohungen wurden auf Kürzungen reduziert. Andererseits aber machte der AK Sozialer Unfrieden wie auch etwa zur gleichen Zeit das Aktionsbündnis gegen Arbeitslosigkeit in Kiel und bundesweit die frustrierende Erfahrung, daß das bloße Reagieren auf die sich häufenden Einschnitte ins sog. "soziale Netz" schließlich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit immer wieder ausgeht wie das Wettrennen zwischen Hase und Igel. Die Lobby der Reichen und Mächtigen im Lande agiert nach dem Prinzip "teile und herrsche!". Solange sich ihr Gegenpol gemäß den gängigen Kategorien einer interessierten Sprachregelung dividieren läßt in "Arbeits-" bzw. "Erwerbslose" und "ArbeitnehmerInnen" bzw. "ErwerbsarbeiterInnen", "JobberInnen", "Teilzeit-" und "Vollzeitkräfte", "Sozialversicherte" und "SozialhilfeempfängerInnen", "InländerInnen", "AusländerInnen" und "AsylbewerberInnnen" usw., bleibt er alles in allem der Herrschaft unterworfen und dazu verdammt, am Ende jedesmal aufs Neue gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Nicht ganz zufällig ist daher die Strategiediskussion von Anfang der 80er, dem Beginn der "Ära Kohl", mit deren heutigem Ende neu aufgelebt. Das Bedürfnis, nicht nur in politischen Floskeln den Zusammenhang aller "Betroffenen" zu beschwören, sondern in der Aktion selbst konkret herzustellen, das Bedürfnis nach einem politischen Aktionsprogramm, das die wirkliche Einheit der Interessen aller Ausgebeuteten und Abhängigen praktisch zur Geltung bringt, dringt wieder stärker ins linke Bewußtsein.

Einige TeilnehmerInnen des AK Sozialer Unfrieden haben sich darum zu dem Versuch entschlossen, quer durch die bestehenden linken Gruppierungen und Schattierungen in Kiel einer solchen neuerlichen Strategie-Diskussion auf die Beine zu helfen, wie sie andern Orts bereits intensiver geführt wird. In den Vordergrund geschoben hat sich dabei die Forderung nach einem "Existenzgeld".

Für den 18. bis 21. März lädt die Gruppe FelS ("Für eine linke Strömung", Hrsg. der Zeitschrift "Aranca!") zu einer europäischen Konferenz nach Berlin: "Für Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung. Zur Kritik der Lohnarbeitsgesellschaft". Verschiedene linke Gruppen und Initiativen aus Berlin, Hamburg, Frankfurt und weiteren Städten haben sich mit schriftlichen Beiträgen zur Debatte in die Vorbereitung der Konferenz eingeschaltet. Einen Beitrag der Arbeitsloseninitiative Oldenburg (ALSO) hat die LinX, Nr. 25/26 '98 nachgedruckt. Auch Avanti (Projekt undogmatische Linke, Lübeck und Kiel) hat mit einem Brief an FelS schriftlich Stellung genommen und die Teilnahme an der Konferenz angesagt.

Wir betrachten die Forderung nach einem Existenzgeld keineswegs als die bereits gefundene Antwort auf die strategische Misere der Linken, sondern allenfalls als eine zugespitzte Formulierung der Frage nach einer strategischen Initiative von links. Dies gilt namentlich für das von der Kieler Arbeitslosenini mitausgearbeitete und -getragene Konzept der BAG-SHI, das sich - anders als etwa FelS - auch auf Einzelheiten der Höhe, der Auszahlungsweise und der Finanzierung näher einläßt.

An dem Konzept besticht, daß es die Forderung nicht nach Almosen, nach einer Abmilderung und humaneren Verwaltung der Armut, sondern nach deren Abschaffung zur hier und jetzt zu verwirklichenden Tagesaufgabe erhebt, statt solches als Frucht der großen, ewig unbestimmten "Revolution" wie gehabt im Abstrakten verschwinden zu lassen. Allerdings zielt das Konzept der BAGSHI ausdrücklich auf die Aufhebung des Zwangs zur Lohnarbeit, dem nach wie vor automatisch alle diejenigen unterworfen sind, die kein Kapital besitzen, d.h. nicht ihrerseits Lohnarbeit ausbeuten. Damit ginge sie unmittelbar an die Wurzel des Kapitalismus, wäre an sich selber revolutionär und also zu fragen, ob dann nicht auch offen ausgesprochen werden müßte, daß sie nur mit revolutionären Mitteln, nur im offenen Kampf mit sämtlichen herrschenden Klassen- und Staatsgewalten durchzusetzen wäre.

Daß eine Forderung nach Existenzgeld, sofern nicht ausdrücklich erhoben als Übergangsmaßnahme zum "Ex-Geld", zu einer Gesellschaft ohne Privateigentum und Lohnarbeit, für emanzipatorische Bestrebungen ein Schuß nach hinten würde, ist längst nicht mehr nur eine mögliche Gefahr, sondern gegenwärtige politische Wirklichkeit. Die Diskussion um eine gesetzlich garantierte Existenzsicherung ist, seit sie vom italienischen Operaismus Ende der 70er Jahre herkommend in die hiesige Linke Einzug gehalten hat, über Ökolibertäre und Grüne Partei ziemlich bald parlamentarisch geworden. Auch soziale, christliche und neoliberale Demokraten haben mittlerweile ihre sog. "Grundsicherungsmodelle", mit denen sie auf eine solche Demontage des bestehenden Systems der Sozialversicherungen zielen, die für den besitzlosen Teil der Bevölkerung den staatlich garantierten Zwang, jede schlechtbezahlte Drecksarbeit anzunehmen, um irgendwie über die Runden zu kommen, immens verschärfen würde. Beim gegebenen politischen Kräfteverhältnis dürfte sich eher irgendeine Variante dieser sozusagen entwendeten Form des "Existenzgelds" durchsetzen als eine solche, die tatsächlich der Lohnarbeit an die Wurzel ginge.

Setzen wir also nicht mit der "utopischen" Forderung nach Existenzgeld möglicherweise alles aufs Spiel, was ein gutes Jahrhundert gewerkschaftlichen und politischen Kampfes der Ausgebeuteten an Dämmen gegen die rabiatesten Formen der Ausbeutung errichtet hat? Müssen wir jetzt nicht v.a. das tariflich und gesetzlich geschützte Arbeitsverhältnis sowie die bestehenden Sozialversicherungen verteidigen und um Verbesserungen in diesem Rahmen kämpfen? Im Sinne dieser Fragestellungen bestehen etliche TeilnehmerInnen an der Debatte um das Existenzgeld darauf, die Forderung danach keinesfalls zu trennen von der Durchsetzung des Rechts auf Arbeit für alle oder auf sog. "Vollzeitarbeitsplätze".

Wie auch immer: Kräfteverhältnisse sind dazu da, daß wir sie zu unseren Gunsten verändern. So oder so ist der Kampf um das überlieferte System der sozialversicherten Lohnarbeit längst voll entbrannt, und es gibt Situationen, in denen der Angriff nicht nur die beste, sondern auch die einzig noch mögliche Verteidigung ist.

Wir stellen uns fürs erste eine von einem möglichst breiten Spektrum linker Gruppen bzw. Strömungen und Einzelpersonen getragene Diskussionsveranstaltung vor. Zur Diskussion stehen sollten Konzepte und strategische Überlegungen dazu, wie Massenarbeitslosigkeit und die bürgerlich betriebene Demontage des sog. "sozialen Netzes" von links bekämpft werden können, d.h. so, daß dieser Kampf uns dem Ziel der Beseitigung jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen durch andere Menschen ein Stück näherbringt.

Die Diskussion sollte eingeleitet werden durch einige Referate kontroverser Positionen (die Kieler Arbeitslosenini, die PDS und das Projekt Avanti haben sich schon dazu bereit erklärt; weitere Referate - nicht länger als zehn Minuten - könnten eingereicht werden). Sehr wünschenswert wären kurze schriftliche Zusammenfassungen der Positionen, zugespitzt auf die kontroversen Punkte, als Tischvorlage. Die Diskussion selbst sollte für alle Beteiligten völlig offen sein, d.h. nicht irgendeinem Podium ein privilegiertes Rederecht einräumen.

Es ist uns klar, daß es mit einer einzigen Diskussionsveranstaltung bei weitem nicht getan ist. Sie kann zunächst nur das allgemeine Problembewußtsein hinsichtlich der Aufgaben schärfen, vor die eine auf gesellschaftliche Emanzipation zielende Bewegung angesichts sich zuspitzender sozialer Gegensätze gegenwärtig und in näherer Zukunft gestellt ist. Sie könnte allenfalls der Auftakt einer Diskussion quer durch sämtliche herkömmlichen linken Lager und Expertencrews sein, einer Diskussion, die einen langen Atem braucht und für die es die geeigneten Formen noch zu entwickeln und zu erproben gälte.

Für die gemeinsame Veranstaltung ist Dienstag, der 20.4.99, 19.30 Uhr in der Pumpe vorgesehen.

Zum nächsten Vorbereitungstermin, am 24.3. um 19.30 Uhr in der Arbeitslosen-Ini, Iltisstr. 34 hoffen wir auf eure rege Teilnahme!

Eingeladen sind: Autonomes FrauenLesbenplenum, AK Lesben zeigt Euch, Avanti, Alo-Ini, DFI, Frau KuKo, Kagon, Chaika, Linksruck, SAV, PDS, DKP, KPD. Die Einladung kann gern nach eurem eigenen Ermessen, z.B. auch an gewerkschaftliche Basisgruppen, weitergegeben werden!

Im folgenden noch eine kurze Vorstellung einiger uns bekannter Positionen zum Existenzgeld.

(Eva D.)