Herr, send' Hirn!

Nachdem der Hirn-Sender sich in der letzten Hirn-Kolumne einigermaßen ausführlich, um nicht zu sagen ausschließlich, mit dem Phänomen "Big Brother" beschäftigt hatte, ereilte ihn darob manche mündliche Rüge. Kern der Kritik: Man beteilige sich an dem Hype um die umstrittene RTL II-Sendung, indem man ihr so viel Hirnschmalz widme. Das mag sein. Denn jede Kritik eines Phänomens nennt natürlich das Phänomen und verschafft dadurch auch ihm Gehör. Das wissen auch die Big-Brother-Macher, die über negative Kritiken nicht weniger glücklich sind als über positive, weil ihr Hauptanliegen ist, dass die Sendung in den Schlagzeilen bleibt. Die Frage bleibt dennoch, ob man sich gegen die Zumutungen des Systems stellt, indem man sie verschweigt, oder ob man sich nicht vielmehr mitten in die Höhle des Löwen begeben muss. Deshalb also an dieser Stelle noch mehr zu Big Brother.

Im Container ereignen sich interessante Dinge. Wer die Sendung einigermaßen regelmäßig verfolgt, kann bei den Gefangenen inzwischen ausgeprägte Symptome von Hospitalismus ausmachen: gesteigertes Schlafbedürfnis bei hellichtem Tage und andauernder Lachreiz trotz schmerzhaft geringen Witzpotenzials. Zunehmend künstlich wirken die Bilder aus dem Kamera-Knast. Die Bewohner haben die dauernde Beobachtung internalisiert und verfallen mehr und mehr in Rollen. Schon fragt der Moderator Percy Hoven einen Fachmann, ob dieser den Hausbewohnern "schauspielerische Qualitäten" attestieren könne. Sind es am Ende überhaupt Schauspieler, die Endemol für das TV-Event gecastet hat? Zudem zeitigt die Abkapselung von der Außenwelt merkwürdige Auswirkungen. Als am 18.5. Verona Feldbusch das Haus für einen Tag betrat, erkannte sie das intuitiv: Einen Korb mit Zigaretten und anderen Leckereien hatte ihr das Redaktionsteam mitgegeben und als die Bewohner mit begeisterten "Oh, klasse!"-Rufen darüber herfielen, stellte Verona weitsichtig fest: "Das ist ja hier wie in der DDR!"

Was zu der Frage Anlass gibt, ob die DDR nicht ein Big Brother-Haus für 17 Millionen war. Jedenfalls würden das eventuell Leute unterschreiben, die nicht müde werden, von der DDR als größtem Gefängnis aller Zeiten und von der Stasi als "Krake" zu sprechen. Oder doch nicht, weil die nämlich das Big Brother-Haus nicht als Gefängnis sehen, sondern als Ort, an dem man sich freiwillig zum Freiwild mache. Andere Frage, sozusagen im dialektischen Umkehrschluss: Ist wirkliche Volksdemokratie erst dann erreicht, wenn alle alle beobachten können? Sollten radikale Linke nicht fordern, dass in den Chefetagen des deutschen Kapitals ab sofort Überwachungskameras installiert werden, deren Output rund um die Uhr im Web zu betrachten ist?

Dieser Schuss ginge vermutlich nach hinten los. Dennoch stehen mit der Totalitarisierung der Medien Fragen an, um die Linke sich nicht herumdrücken sollten. Auf einem Medienforum der ULR wies der Medienwissenschaftler Jo Groebel kürzlich darauf hin, dass Privatheit mehr und mehr zu einem Produkt werde. Wertediskussionen wie das Gefasel von Menschenrechten (Würde, Unverletzlichkeit der Wohnung, informationelle Selbstbestimmung) wirken da wie Saurier-Diskurse aus dem 19. Jahrhundert. Wie weit es mit der Globalisierung der Privatheit schon gekommen ist und dass Groebel Recht hat, fiel dem Hirn-Sender neulich Nacht direkt in den Schoß. Vereinsamt (also auf unangenehme Weise privatisiert) schaute er dem Reigen der 0190-Werbung zu. Und da hieß es verheißungsvoll: "Na, du? Jetzt neu! Kuscheln für nur 48 Pfennige!"

(jm)