Antifaschismus

Aus der Geschichte lernen

Am 9. November gegen Faschismus und Rassismus zu demonstrieren macht mehrfach Sinn: Zum einen, weil der 9. November 1918 als Tag des Ausbruchs der Novemberrevolution gilt, die von Kiel ihren Ausgang nahm und - wäre sie erfolgreiche gewesen - denjenigen das Handwerk gelegt hätte, die später Hitler an die Macht gebracht haben - den Militaristen des alten Kaiserreichs, den stockreaktionären preußischen Großgrundbesitzern und vor allem den mächtigen Konzernen, damals vor allem der Kohle-, Stahl- und Chemieindustrie. Doch die Revolution scheiterte, die Arbeiter- und Soldatenräte lösten sich auf oder wurden blutig auseinandergejagt, und die alten Herren, die bereits den ersten Weltkrieg angezettelt hatten, konnten den nächsten planen und Hitler zu ihrem Vollstrecker machen.

Genau 20 Jahre später, die Nazis hatten bereits Österreich und Teile der Tschechoslowakei besetzt und bereiteten mit Hochdruck den großen Krieg vor, geschah das, was manche immer noch, meist aus Unwissenheit, verniedlichend im Nazijargon "Reichskristallnacht" nennen: Ein zentral organisiertes Brandschatzen jüdischer Geschäfte, Versammlungshäuser und Synagogen in den meisten deutschen Städten. 38 Menschen werden in dieser Nacht in verschiedenen Städten von SA-Männern ermordet. 20.000 Juden wurden verhaftet, ein Teil von ihnen in Konzentrationslager deportiert, wo sie meist ermordet wurden. Für die Nazis war dieses Pogrom ein wichtiger Test, um die Kriegsfähigkeit der Bevölkerung zu prüfen. Es war seit längerem vorbereitet und der unmittelbare Auslöser, das Attentat eines verzweifelten jüdischen Emigranten auf einen deutschen Diplomaten in Paris, nur der gewünschte Vorwand, den man sich andernfalls nach bewährtem Muster selbst konstruiert hätte. Durchgeführt wurden die Überfälle von SA-Einheiten, die die Anweisung hatten, Zivil zu tragen, damit das ganze nach "spontanem Volkszorn" aussieht.

Denkmal für die am 9.11.1938 niedergebrannten Kieler Synagoge (Foto: jm)

Auch in Kiel brannte die Synagoge, auf deren Grundstück am Schrevenpark gegenüber den Stadtwerken heute ein Wohnhaus steht. Seit einigen Jahren erinnert ein Gedenkstein an sie. Zahlreiche jüdische Geschäfte wurden zerstört, nahezu alle jüdischen Männer wurden verhaftet. Wie anderswo auch sieht die Feuerwehr tatenlos zu, wie die jüdischen Einrichtungen brennen. In manchen Städten wird sie auch von der Polizei vom Löschen abgehalten.

Dass auch in Kiel die Überfälle wohl organisiert waren, zeigt ein Bericht, den der Kieler SA-Führer und Polizeipräsident Meyer-Quade im Dezember 1939 abgefasst hat (Meyer-Quade hielt sich wie viele Nazi-Größen am 9.11. in München zu einer zentralen Feier auf): "Als am 9. November abends gegen 22 Uhr im Hotel 'Schottenhammel' in München durch einen mir unbekannten Parteigenossen der Reichsleitung der NSDAP einigen der dort versammelten Gauleitern die Notwendigkeit der Aktion mitgeteilt wurde, habe ich dem Gauleiter (der NSDAP in Schleswig-Holstein - wop) Lohse die Mitwirkung der SA-Gruppe Nordmark freiwillig und unaufgefordert angeboten. Daraufhin rief ich den Stabsführer der SA-Gruppe Nordmark, Oberführer Volquardsen, in Kiel an und übermittelte Folgendes etwa um 23 Uhr:

'Ein Jude hat geschossen. Ein deutscher Diplomat ist tot. In Friedrichstadt, Kiel, Lübeck und anderswo stehen völlig überflüssige Versammlungshäuser. Auch Geschäfte haben diese Leute bei uns noch. Beide sind überflüssig. Es darf nicht geplündert werden. Ausländische Juden dürfen nicht angefasst werden. Bei Widerstand von der Waffe Gebrauch machen. Die Aktion muss in Zivil durchgeführt werden und um 5 Uhr beendet sein.'" Meyer-Quade schildert weiter, wie er auch der Polizei ausführliche Instruktionen erteilt.

Für die Nazis war das der Auftakt zur deutlichen Verschärfung der Judenverfolgung. Die meisten Verhafteten kamen zunächst wieder frei, aber ihre Erwerbsgrundlagen waren zerstört, und man zwang sie sogar noch für die von den Nazis angerichteten Verwüstungen zu zahlen. Unmittelbar nach den Pogromen wurden die Gesetze gegen die Juden weiter verschärft, die Berufsverbote ausgedehnt. Wer nicht noch ins Ausland fliehen konnte wurde schließlich in den ersten Kriegsjahren in die KZs verschleppt, wo die meisten umkamen.

Von den 800 Kieler Juden starben mindestens 132 in Haft oder begingen vor ihrer Deportation Selbstmord. Nur wenige überlebten die KZs oder im Versteck. Die meisten anderen hatten noch vor 1939 emigrieren können.

Der Versuch war gelungen. Die deutsche Bevölkerung hatte widerstandslos zugesehen, wie SA und Polizei auf offener Straße Menschen festnahmen oder gar ermordeten. Anders als in den Niederlanden, wo später unter deutscher Besatzungsmacht die Arbeiter mit einem Generalstreik auf die Judendeportationen reagierten, oder in Dänemark, wo die Bevölkerung in einer klandestinen Großaktion die Flucht der dänischen Juden nach Schweden organisierte, hatte sich in Deutschland weder spontaner noch organisierter Widerstand geregt. Die Deutschen waren reif, Schlimmerem zuzusehen, Schlimmes am eigenen Leibe zu ertragen. Wenige Jahre später gab es die Quittung für die Passivität: Im Bombenkrieg der Alliierten gegen deutsche Industriestädte starben in Kiel über 2.000 Zivilisten. (wop)

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