Antifaschismus

Nach der Demonstration vom 9.11. fängt unsere Arbeit erst an:

Den Widerstand organisieren!

Skizzen zu einem Redebeitrag. Von Dietrich Lohse

Vorbemerkung: Von den TeilnehmerInnen des Runden Tisches gegen Faschismus und Rassismus in Kiel bin ich als einer der RednerInnen für die Demonstration am 9. November benannt worden. Ich betrachte dies als ehrende Verpflichtung. Verpflichtung auch gegenüber den vielen unabhängig von der politischen Konjunktur und unbeirrt von mancherlei Anfeindungen seit Jahren in der antifaschistischen Bewegung unserer Stadt tätigen Menschen unterschiedlicher Nationalität, ihre Anliegen zur Sprache zu bringen. Die folgenden Überlegungen werden Bestandteil meines Redebeitrags sein. Dass sie sich in etwa siebeneinhalb Minuten durchlesen lassen, liegt an der Zeitvorgabe für alle RednerInnen. Was darüber hinaus zu sagen ist, wird auf den weiteren Treffen des Runden Tisches gesagt werden. Und weiterhin in dieser Zeitung zu lesen sein. (D.L.)

Eine machtvolle Demonstration soll es werden, am 9. November 2000 in Kiel. Mindestens 2000 AntifaschistInnen, so hieß es auf der Pressekonferenz am 3.11., werden erwartet. "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!" ist die uns verbindende Losung. "Leisten wir Widerstand gegen die NPD und alle anderen faschistischen Organisationen! Stoppen wir die Nazis!" lautet der Aufruf der Demonstrierenden an alle Kielerinnen und Kieler.

Ich hoffe sehr, dass wir viele sind an diesem Tag. Wir werden uns gegenseitig begrüßen und uns darüber freuen: "So viele! Trotz des ungünstigen Zeitpunkts, trotz Dunkelheit und Kälte..." Hoffentlich. Aber, wie viele wir auch sein werden, wir sollten uns dabei nicht allzulange aufhalten. Wer nur abzählt, wer etwa nach der Demonstration in Düsseldorf vor wenigen Tagen - mit der unsere nicht vergleichbar sein wird - sagte:: "20.000 AntifaschistInnen! 200 Nazis!" (Vielleicht noch: "600 Linksradikale, die sich mal wieder mit der Polizei anlegen mussten!") "Da sieht man, wie die Kräfteverhältnisse verteilt sind! Da können wir stolz und beruhigt sein!" - wer so denkt, ist gefährlich naiv.

Gemeinhin gedenkt man am 9. November des antisemitischen Pogroms der Hitlerfaschisten von 1938. Wer weiter denkt, gedenkt zudem der Novemberrevolution von 1918 - auch, weil die damals mögliche Zerstörung nicht nur des Kaiserreichs, sondern der kapitalistischen Klassenherrschaft in Deutschland den Völkern der Welt die Barbarei der Folgejahre hätte ersparen können. Ich möchte an ein anderes Ereignis aus einem anderen Jahr erinnern, das zwar nichts mit einem 9. November, aber etwas mit einer massenhaften antifaschistischen Manifestation zu tun hat, wie wir sie jetzt eben auch vorhaben.

Am 5. Juni 1993, vor etwa siebeneinhalb Jahren also, standen wir mit vielen Tausend Menschen auf dem Rathausplatz. Nach den Morden von Solingen. (Diesen Verbrechen vorangegangen war die Mordtat von Mölln, der ebenfalls eine Großdemonstration in Kiel gefolgt war.) An diesem 5. Juni 1993 sagte unser Freund Hüseyin Ayvaz vom Deutsch-Türkischen Volkshaus - das es heute nicht mehr gibt - : "Es ist schlimm, es ist schrecklich, dass wir uns binnen sechs Monaten zum zweiten Mal hier treffen, um gegen einen Mordanschlag zu protestieren, bei dem Frauen und Kinder verbrannten." Er fuhr fort, und ich habe den Klang seiner Worte noch im Ohr: "Und die Befürchtung, dass wir uns wahrscheinlich nicht zum letzten Mal hier treffen, ist noch unerträglicher."

Das Morden ist weitergegangen, und wir stehen wieder hier, nach siebeneinhalb Jahren. Im Schnitt jeden Monat ein Todesopfer faschistischer Gewalt, viele Hundert Verletzte in den letzten Jahren, Tausende leben in Deutschland im Ausnahmezustand. Antisemitismus gehört zur deutschen Alltagskultur. Der Zustand politischer Apartheid dauert an. Rassismus ist Bestandteil von Regierungs- und Unternehmenspolitik geblieben, denn er äußert sich nicht nur in Mordtaten, sondern schon dort, wo ZuwanderInnen in nützliche und unnütze Menschen eingeteilt werden. Schon vor siebeneinhalb Jahren fanden PolitikerInnen allerlei Worte, die sie heute noch aufsagen können. Zum Beispiel: "Anständiges Deutschland". Oder: "Zivilcourage". Und dann haben sie das Thema vergessen. Viele von ihnen hatten es auch nicht so gemeint. Denn sie hatten gerade einem wesentlichen Anliegen der Faschisten parlamentarische Geltung verschafft und ein als Lehre aus der Zeit des Faschismus verfassungsmäßig verankertes Grundrecht in seiner Substanz beschädigt: Das Asylrecht wurde eingeschränkt. Manche, die sich heute als NPD-GegnerInnen darstellen, wollen es im gleichen Atemzug nun endgültig beseitigen. Sie sind unsere Feinde wie die Nazis selbst.

Dass Hüseyin Ayvaz' Befürchtung wahr geworden ist, liegt nicht zuletzt daran, dass die politischen EntscheidungsträgerInnen damals zwar Mitgefühl mit den Toten bekundeten, den politischen Forderungen der Betroffenen aber keine Geltung verschaffen wollten. Deshalb möchte ich auch daran erinnern: Neben der Wiederherstellung des Asylrechts wurde im Demonstrationsaufruf des Deutsch-Türkischen Volkshauses gefordert: Uneingeschränktes Wahlrecht für alle, ein Antidiskriminierungsgesetz, das Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft, das Verbot der rassistischen Propaganda und aller rassistischen Organisationen, die rasche Aburteilung faschistischer Verbrecher. Im Aufruf zur Demonstration am 9.11. diesen Jahres gibt es leider überhaupt keine Forderung dieser Art.

Mir liegt am Herzen, und es ist lebensnotwendig für viele Menschen in unserem Land, dass es in Kiel nach unserer jetzigen Demonstration nicht so weitergeht wie nach der letzten. Ich will nicht noch einmal - nach sieben Monaten so wenig wie nach sieben Jahren - hier stehen und Tote betrauern und zusehen müssen, wie die Bedingungen des Mordens weiter bestehen bleiben. Die vor siebeneinhalb Jahren von unseren türkischen FreundInnen erhobenen Forderungen sind Mindestinhalte der politischen Plattform jedes Bündnisses und Runden Tisches, dessen Mitglieder sich der kontinuierlichen antifaschistischen Arbeit verschreiben, wie es das erklärte Ziel des Runden Tisches gegen Faschismus und Rassismus in Kiel ist.

Es gilt also, nicht nur gegen Nazis zu protestieren und Widerstand zu leisten, sondern Widerstand zu organisieren auch gegen die vorherrschende Politik in diesem Land und die noch grausigeren Zukunftspläne reaktionärer Kreise gleich welcher Parteizugehörigkeit. Hier verzahnt sich der antifaschistische Kampf mit dem wirtschaftlichen. Vor unseren Augen vollzieht sich die Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich, die Umverteilung von unten nach oben, ein mörderischer Wettbewerb auf nationaler und internationaler Ebene, in den wir uns auch noch freiwillig per Bündnis für Wettbewerbsfähigkeit, Standortsicherung usw. einbinden lassen sollen. Tun wir das, zerstören wir selbst die Arbeitersolidarität, fördern nationalistische Tendenzen und geben den Nazis gleichzeitig Ansatzpunkte für ihre soziale Demagogie, wie sie besonders die NPD betreibt. Sie folgt da ganz dem Vorbild der NSDAP, deren Nachfolgeorganisation sie ist. (Aus guten Gründen ist meine Gewerkschaft, die IG Medien, aus dem bundesweiten Bündnis gegen Arbeit ausgestiegen.) Nicht zuletzt die Beteiligung engagierter Kolleginnen und Kollegen aus den Betrieben an antifaschistischen Bündnissen kann dazu beitragen, dass diese den gegebenen Anforderungen gerecht werden.

"Stoppen wir die Nazis", heißt es im Demonstrationsaufruf, und dem Wunsch zahlreicher TeilnehmerInnen des Vorbereitungskreises entsprechend liegt eine deutliche Betonung auf dem "wir" - diese Aufgabe sei nicht zu delegieren, das müssten wir selbst anpacken. Wenn damit nicht die Politik aus der Verantwortung genommen werden soll, ist das ein sehr positives Anliegen. Es ist auch die beste Art, unseren politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Also: Zivilcourage zeigen, und begreifen: das muss zivilen Ungehorsam einschließen. Mit den vielfältigen Aufrufen zu Zivilcourage ist das ja so eine Sache. Nach der ersten großen Demonstration in Neumünster gegen einen Naziaufmarsch und für die Schließung des "Club 88" wurden die mutigen Menschen, die sich dem Zug der Faschisten in den Weg setzten, noch allseits gelobt. Aber die Lehre, die Landesregierung und Polizei offenbar daraus gezogen haben, verträgt sich nicht mit den genannten Appellen. Sie scheint zu heißen: Eine solche Chance, Zivilcourage zu zeigen, sollen AntifaschistInnen nie wieder bekommen! Dass die Polizei von nun an für Demonstrationen der Nazi-Verbrecher ganze Stadtteile abriegelt und von couragierten AntifaschistInnen freiräumt, dass antifaschistische Gegendemonstrationen nur noch weit weg davon stattfinden sollen und dass alle, die noch einmal der auf Kundgebungen gern geäußerten Aufforderung, den Nazis nicht "noch einmal" - nämlich wie vor 1933 - die Straße zu überlassen, tatkräftig umsetzen wollen, verprügelt und festgenommen werden, ist ein Skandal, mit dem wir uns niemals abfinden dürfen.

Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Kein Einsatz zum Schutz der Faschisten kann mit der Sicherstellung von Meinungs- und Demonstrationsfreiheit legitim begründet werden. Kein Richterspruch in diesem Sinne verdient Beachtung. Wer zum Schutz von Nazis auf die Straße geht, wer mitwirkt an der Herstellung und Verbreitung faschistischer Medien, wird mitschuldig. Es ist ein Skandal, dass Kolleginnen und Kollegen durch Befehle, Dienstanweisungen, wirtschaftlichen Druck in solche Schuld verstrickt werden. Solidarität und nicht zuletzt gewerkschaftliche Unterstützung tut not für alle, die sich der Kollaboration mit den Verbrechern verweigern. Faschismus und jede Form des Rassismus muss aus dem politischen Leben dieser Republik ausgemerzt werden. Das Verbot aller faschistischen Organisationen und die rückhaltlose Zerschlagung aller ihrer Strukturen ist lange überfällig. Im Sinne des Artikels 139 GG sind sie bereits heute als verboten zu betrachten und entsprechend zu behandeln. Von uns allen. Immer und überall.

Allen Versuchen, allgemeine demokratische Freiheiten wie das Versammlungs- und Koalitionsrecht weiter einzuschränken, ist eine Absage zu erteilen. Wir brauchen auch keinen Ausbau, sondern einen Abbau des Überwachungsstaats. Der so genannte Verfassungsschutz ist mehr durch die Verstrickung seiner Agenten in faschistische Verbrechen aufgefallen als durch deren Abwehr. Wer Informationen über Nazi-Umtriebe haben will, kann auf den Geheimdienst verzichten. Solche Informationen liefern antifaschistische Initiativen seit Jahrzehnten erheblich zuverlässiger. Dafür werden sie in Verfassungsschutzberichten heute noch, auch in unserem Bundesland, als Verfassungsfeinde wie die Nazis bezeichnet und wegen ihrer Aktionen der Aufklärung und des Widerstands gar für das Erstarken faschistischer Organisationen verantwortlich gemacht. Die Förderung der Arbeit solcher Initiativen auch mit öffentlichen Mitteln ist dagegen dringend geboten.

Dass uns die Zukunft gehört und die Nazis keine haben, dazu können wir alle in unseren jeweiligen Lebens- und Arbeitsbereichen beitragen. Und wir können viel zusammen tun. Uns stark und handlungsfähig zu machen, den Nazi-Umtrieben zu wehren, ihre Ursachen ausfindig zu machen und zu beseitigen zu helfen, ist aus meiner Sicht die Aufgabe des Runden Tisches gegen Faschismus und Rassismus in Kiel. Menschen unterschiedlicher Weltanschauung und Parteizugehörigkeit arbeiten bereits daran. Die TeilnehmerInnen der Demonstration am 9. November sind aufgerufen, dabei mitzutun.


Vorschlag für eine Präambel der "Kieler Erklärung"

Auf der Sitzung des Runden Tisches gegen Faschismus und Rassismus in Kiel am 2.11.2000 wurde bekräftigt, dass sich das Bündnis in Form einer "Kieler Erklärung" eine politische Plattform geben will. Darüber wird nach der Demonstration diskutiert werden. Für die Präambel einer solchen Erklärung wurde an diesem Tag ein Vorschlag präsentiert, den wir im Folgenden dokumentieren.

Am Runden Tisch gegen Rassismus und Faschismus in Kiel ist Platz für alle EinwohnerInnen unserer Stadt, die den mörderischen Terror und die menschenverachtende Hetze der Faschisten in Deutschland nicht länger dulden wollen.

Wir laden alle demokratisch gesinnten Menschen gleich welcher Herkunft, Weltanschauung oder Parteizugehörigkeit ein, mit uns ihren Platz an diesem Tisch einzunehmen.

Faschismus gleich welcher Spielart und Organisationsform darf im politischen Leben unseres Landes keinen Platz mehr finden.

Denn Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.

Gemeinsam wollen wir in Zukunft beraten, wie wir Nazi-Umtrieben entgegentreten können. Wir wollen uns gegenseitig helfen, im jeweiligen Lebensbereich selbst handlungsfähig zu werden und weitere Menschen für unser Anliegen zu gewinnen. Wir wollen helfen, Zivilcourage und zivilen Ungehorsam zu entwickeln, wo Mitmenschen von den Nazis angegriffen werden, wo wir selbst Faschisten gegenüberstehen oder wo wir etwa im Beruf gezwungen werden sollen, bei Herstellung und Verbreitung faschistischer und rassistischer Machwerke mitzuwirken.

Wir wollen ergänzend zu allen notwendigen Sofortmaßnahmen die Ursachen der faschistischen Gewalt und der Erfolge der Nazis bei der Gewinnung von Anhängern aufspüren und beseitigen helfen. Denn: "Die Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung". Dem Schwur der Häftlinge und Freiheitskämpfer von Buchenwald bleiben wir verpflichtet.

Deshalb wird der Runde Tisch gegen Rassismus und Faschismus in Kiel eine dauerhafte Einrichtung bleiben.

Zu den gesellschaftlichen Bedingungen, die den Faschisten den Boden bereiten, gehören

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