Betrieb & Gewerkschaft

Tarifabschluss M+E Industrie

"Gefühlte 4" im Delta der Tarife

IG Metall auf der Überholspur?

IG Metall auf der Überholspur?


 "Die 4 steht" lautete die Botschaft aus der IG Metall Zentrale in den Streiknachrichten metallaktuell, nach dem Abschluss in Baden-Württemberg. Nach "Jetzt streikt’s" (Vgl. LinX 9/02) und "Noch mehr Tempo" eine Vollbremsung oder ein Auslauf? Einen Tag vor Redaktionsschluss der LinX gab es im zweiten Streikbezirk Berlin-Brandenburg einen bis auf Nuancen identischen Abschluss. Über eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden – in den Tarifgebieten auf dem Boden der ehemaligen DDR gilt die 38 Stundenwoche – wurden Verhandlungen für 2003 vereinbart. Für Betriebe in "wirtschaftlicher Not" können, mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien, Abweichungen vom Tarifvertrag vereinbart werden. Weder für den Osten noch den Westen etwas neues: "Härtefallregelungen" gab und gibt es allerorten!

Von beiden Tarifparteien wurde auf die Übernahme in den anderen Tarifbezirken gesetzt bzw. eine signalisiert. Bis auf die Metallkapitalisten in Sachsen: Deren Verband lehnte eine Übernahme der Tarifeinigung ab. Zum Redaktionsschluss der LinX wurde gar Urabstimmung und Streik in Sachsen kolportiert. Was sich bis zum Erscheinen dieser Ausgabe alles gelegt haben kann! Im Norden wurden die streikunterstützenden Aktionen (Überstundenboykott usw.) ausgesetzt, ... "bis klar ist ob und wie eine Übertragung des Ergebnisses stattfindet", so Kiels IG Metall-Chef Wolfgang Mädel.

Nicht so schnell Annegret Weiß, Betriebsrat Caterpillar gelegt haben wird sich die Diskussion über das Tarifergebnis in den Reihen der Belegschaften und IGM Funktionäre. Auf einer presseöffentlichen Betriebsräteversammlung am 16. Mai im Kieler Gewerkschaftshaus wurde das frische Ergebnis aus dem Südwesten unter den rund 80 Teilnehmern heiß diskutiert und kommentiert. Die Äußerungen gingen von ..."Die Kollegen sind enttäuscht", Annegret Weiß von Caterpillar Motoren GmbH, ... "Wir sind die Besiegten", Volker Krispien von ORGA Kartensysteme, ... "Wie man auch rechnet, wir sind weit von den vier Prozent weg. Das Ergebnis ist enttäuschend", Gerhard Nickel, BR Heidelberger Druckmaschinen Gerhard Nickel von Heidelberger Druckmaschinen AG, ... "Trotz der langen Laufzeit und der zwei Null-Monate ist ein Top-Ergebnis erzielt worden", Ernst August Kiel von HDW AG, bis zum ... "Grund mit Sekt anzustoßen", Ernst-August Kiel, BR HDW Reiner Heyse von Raytheon Marine GmbH, der den Abschluss über ein Entgelt-Rahmen-Abkommen ERA hervorhob und die Lohnerhöhungen in dem Kontext als "akzeptabel" bezeichnete. Wie die Letztgenannten werden es die 240 Delegierten der Großen Tarifkommission in Baden-Württemberg beurteilt haben: Nur Sieben votierten am 17. Mai gegen das Verhandlungsergebnis! Das Ergebnis muss noch in einer Urabstimmung am 21.-22. Mai (nach Red.-Schluss!) bestätigt werden. Dafür reicht ein Votum von 25 Prozent der streikfähigen IGM-Mitglieder!

"Trinkgeld" für ERA

Der Tarifabschluss im Einzelnen:

Das Entgelt-Rahmen-Abkommens ERA (das noch nicht in "trockenen Tüchern" ist!) gilt vielen Funktionären in der IG Metall als "epochales" Jahrhundertwerk. Den Kapitalisten ist die tarifvertragliche Beschreibung relativ egal, solange hieraus keine zusätzlichen Kosten entstehen. (Vgl. LinX 12/01 ) Auf die Kosten hat die IG Metall Rücksicht genommen: Die quasi als Trinkgeld auszubezahlenden Strukturkomponenten von 0,9 bzw. 0,5 Prozent sind für den Einzelnen nicht gravierend, für die Unternehmen jedoch summierend. Beispiel: Ein tarifliches Monatseinkommen von 2500 Euro erhöht sich bei 4 Prozent Erhöhung um 100 Euro auf 2600 Euro in der Tariftabelle. Statt 4 ( 3,1 in 2003) gelangen von der Erhöhung 2002 nur 3,1 (2,6 in 2003) in die Tariftabelle. Statt 2600 Euro stehen ab Juni nur 2577,50 Euro in der Tabelle. Hierauf berechnen sich nicht nur Urlaubsgeld, zusätzliches Urlaubsgeld, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, "Weihnachtsgeld" und sonstige Zahlungen wie Überstundenzuschläge, sondern auch zukünftige Tariferhöhungen (wie die schon vereinbarte "tabellenwirksame" von 2,6 Prozent in 2003). Da kommen schon hübsche Sümmchen an Entlastungen bei den Lohn- und Lohnnebenkosten zusammen. Die Kapitalisten errechneten real 3,37 Prozent Tariferhöhung. Aus den bürgerlichen und einem Großteil der linken Redaktionsstuben (Elfenbeintürme?) wurde dies allein auf die lange Laufzeit bis 2003 und die zwei "Nullmonate" bezogen!

Tiefere Tarifarithmetik zu betreiben ist an dieser Stelle nicht angebracht, zumal sich nicht alle im Delta der Tarife auskennen (müssen). Eine "reale 4" kommt selbst mit Hilfe kaufmännischer Rundung nicht zustande. Mit dem "Trinkgeld" und einem Vor-Vertrag über ERA kann in der Summe eine "gefühlte 4" vor dem Komma ausgehängt werden!

... "Mit der Vereinbarung zum ERA hat die IG Metall eine Tarifreform auf den Weg gebracht, die in die Zukunft weist. Sie schafft für viele, vor allem im Facharbeiterbereich, die Voraussetzung, ihre individuelle Eingruppierung deutlich zu erhöhen."... erklärte IGM-Vorsitzender Klaus Zwickel in metallaktuell. Das wird Jahre dauern und im nachhinein – weder individuell noch kollektiv – schwer aufzurechnen sein!

Erfolg der Solidarität

Direkt von dem Metallabschluss werden die noch in Verhandlungen steckenden Gewerkschaften in Druckindustrie, Baugewerbe, Versicherungsgewerbe, Einzelhandel und Papier, Pappe und Kunststoff verarbeitender Industrie profitieren. Um ein halbes Prozentchen höher, als noch vor Wochen erwartet, dürften die Abschlüsse liegen!

Himmelhochjauchzend gingen viele, auch (im weitesten Sinne!) linke, Gewerkschafter in den Streik und sind am Ende wiedereinmal zu Tode betrübt. Und stellen sich allzu gerne mit den Frustrierten aller Betriebe (Länder) in die Meckerecke. "Meckerlinke" aller Schattierungen geben gerne entsprechenden defätistischen Senf dazu. Allen gemeinsam ist: Sie bringen selbst nicht einmal marginale Stoßtrupps auf die Beine, von Mehrheiten ganz zu schweigen. Entsprechend sind auch Resolutionen und andere Äußerungen aus den Betrieben – die "Kampfkraft" in der Hauptseite nur über mehr und länger Streikende forderten – zu sehen. "Wer dicke Backen macht muss auch pusten können", sagt der Volksmund.

"Das Tarifergebnis ist ein Erfolg der Solidarität", schreibt metallaktuell. Nicht nur, aber auf die öffentliche Meinung hat die Tarifbewegung in der Metall und Elektroindustrie, mit dem Argument der IG Metall "Volle Kassen der Unternehmen haben keine neuen Arbeitsplätze gebracht ...", im Sinne eines sich solidarisch wehren und durchsetzen, positiv eingewirkt. Die Argumente der IG Metall bezüglich der positiven Auswirkungen des Abschlusses auf die Binnennachfrage, Sozialversicherungen bis Kommunen (Steuereinnahmen!) sind auch Argumente gegen die von Privatisierungsorgien begleitete "Kaputtsparpolitik". Wer sich in der Debatte über das Tarifergebnis mit den "Miesmachern" verbündet, liefert meist neoliberaler und rechtspopulistischer Politik Steilvorlagen!

Die politische Bewertung auch einer Tarifrunde erfordert mehr als die Beherrschung der Grundrechenarten und Zahlenakrobatik. Trotz nur "gefühlter 4" sollte der Verstand zur Orientierung gebrauchen werden! Nicht nur im Delta der Tarife!

W. Jard 

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